Der Fluch in den Genen: Zum Tag der seltenen Krankheiten stellt TAG24 drei Patienten vor

Deutschland - Rund fünf Prozent der Deutschen leiden unter einer der etwa 8000 seltenen Erkrankungen - also rund vier Millionen Einwohner! 80 Prozent dieser Krankheiten werden durch Genmutationen verursacht oder vererbt und trotz schwerer Symptome dauert es oft Jahre bis zur Diagnose. Zum Tag der seltenen Krankheiten erzählt TAG24 die Schicksalsgeschichten von Daniel (2), Jessica-Emilia (11) und Marcel (34).

Das Schicksal der Krankheit Myasthenie ereilte Marcel Welk (34) über Nacht: Alle 14 Tage bekommt er jetzt eine Infusion über eine Brustkanüle. Zudem bringen ihn zwölf Tabletten über den Tag.
Das Schicksal der Krankheit Myasthenie ereilte Marcel Welk (34) über Nacht: Alle 14 Tage bekommt er jetzt eine Infusion über eine Brustkanüle. Zudem bringen ihn zwölf Tabletten über den Tag.  © Norbert Neumann

Als 17-Jähriger war Marcel Welk (heute 34) eine Sportskanone. Er spielte Volleyball, war bereits mehrere Jahre Rettungsschwimmer bei der DLRG.

"Als ich eines Tages mit dem Rad zur Schule fahren wollte, konnte ich plötzlich meinen Kopf nicht mehr aufrecht halten, die Kraft in den Beinen zum Weitertreten schwand", erzählt er.

"Ich habe die Symptome erst auf Prüfungsstress und die Vorbereitungen für Schwimmwettkämpfe und ein Volleyballturnier geschoben." Doch sein Körper ermüdete immer schneller.

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Im Mai 2004 dann die Diagnose Myasthenie (Muskelschwäche). Dabei kommen die Impulse der Nerven nicht mehr bei den Muskeln an. Gliedmaßen können versagen, Augenlider hängen, man sieht Doppelbilder.

"Die Autoimmunerkrankung tritt bei etwa 100 von einer Million Personen auf", weiß Marcels behandelnde Ärztin Dr. Ulrike Reuner (62) von der Klinik für Neurologie im Uniklinikum Dresden.

"Die Krankheit wurde möglicherweise durch die Narkose bei meiner Mandel-OP ausgelöst", glaubt Marcel. Er musste seine Ausbildung zum Bauzeichner abbrechen, wurde später zum Pflegefall.

Als Marcel 20 wurde, wirkten die Medikamente nicht mehr

Marcel konnte sein Bein erst gar nicht, heute 76 Sekunden lang heben: Beinmuskel-Ausdauertest mit Dr. Ulrike Reuner (62).
Marcel konnte sein Bein erst gar nicht, heute 76 Sekunden lang heben: Beinmuskel-Ausdauertest mit Dr. Ulrike Reuner (62).  © Norbert Neumann

Die Krankheit ist nicht heilbar, je nach Schwere aber mit Medikamenten behandelbar.

Marcel: "Ich litt jedoch teilweise unter Nebenwirkungen der Medizin wie Übelkeit und Erbrechen." Als er 20 Jahre alt war, wirkten die Medikamente gar nicht mehr.

Alternativen zu finden wurde für Dr. Reuner zu einem Wettlauf zwischen neu verfügbaren Wirkstoffen und Marcels immer schwerer werdenden Symptomen.

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Weil Myasthenie auch die Atemmuskulatur lähmt, musste er mehrfach auf der Intensivstation künstlich beatmet und einmal sogar wiederbelebt werden. Er lag anschließend zwei Wochen im Koma.

Schließlich saß Marcel über fünf Jahre im Rollstuhl. "Ich war einfach zu schwach zu gehen", erzählt er.

Marcel hat inzwischen in Dresden "ein zweites Leben begonnen"

Als Marcels Mutter 2013 starb, wurde sein Sohn Lennox (7) geboren: Heute sind die beiden mit Ehefrau und Mutter Karin (34) eine kleine Familie.
Als Marcels Mutter 2013 starb, wurde sein Sohn Lennox (7) geboren: Heute sind die beiden mit Ehefrau und Mutter Karin (34) eine kleine Familie.  © privat

Erst durch eine moderne Infusionstherapie, die sein überschießendes Abwehrsystem ausbremst, kann Marcel wieder selbst stehen und gehen.

"Inzwischen schaffe ich wieder einen Kilometer am Stück, davor nur wenige Meter. Doch Myasthenie ist eine Diva, jeder Tag ist anders." Die Therapiekosten belaufen sich auf 750.000 Euro im Jahr.

"Ich muss alle zwei Wochen für eine Infusion in die Klinik. An längere Urlaubsreisen ist da nicht mehr zu denken."

Inzwischen hat Marcel in Dresden, wie er sagt, "ein zweites Leben begonnen" - mit Ehefrau Karin (34) und Sohn Lennox (7).

"Dank der Therapie hat Marcel eine Lebenserwartung wie die eines Gesunden", sagt Dr. Reuner. Und Myasthenie ist auch nicht vererbbar.

Seltene Krankheit #2: Zweijähriger ist von Geburt an zuckerkrank

Diabetes unter Kontrolle: Daniel Fakturovych (zweieinhalb, M.) mit Mutti Valeria Prishva (33, r.) und Diabetologin Dr. Andrea Näke.
Diabetes unter Kontrolle: Daniel Fakturovych (zweieinhalb, M.) mit Mutti Valeria Prishva (33, r.) und Diabetologin Dr. Andrea Näke.  © Uniklinikum Dresden

Daniel Fakturovych (2) kam im Dresdner St. Joseph-Stift mit 51 cm Größe und einem Gewicht von 2575 Gramm zur Welt - viel zu schmächtig.

Ein Blutzuckertest noch in der Geburtsklinik ergab einen erhöhten Blutzuckerspiegel, der auch noch fünf Tage später nicht gesunken war.

Deshalb wurde er zur Behandlung ans Kinder-Diabeteszentrum des Dresdner Uniklinikums überwiesen. Dort ergab ein Gentest: Daniel hat Diabetes mellitus.

Dabei weisen die an der Insulinproduktion beteiligten Betazellen einen genetischen Defekt auf. "Bei Neugeborenen ist Diabetes eine absolut seltene Diagnose, kommt nur bei einer von 100.000 Geburten vor", erklärt Dr. Andrea Näke, Leiterin des Kinder-Diabeteszentrums.

Daniels Mutter Valeria Prishva (33) war besorgt: "Kann unser lang ersehntes Wunschkind nur durch eine lebenslange Therapie mit Insulinspritzen überleben?"

Apotheke stellt individuelle Wirkstoff-Kapseln für kranken Daniel her

Misst permanent den Blutzucker: Der kleine Daniel trägt einen Sensor am linken Oberarm.
Misst permanent den Blutzucker: Der kleine Daniel trägt einen Sensor am linken Oberarm.  © privat

Daniels Blutzuckerspiegel wird mit einem Wirkstoff behandelt, den sonst Patienten mit Diabetes Typ II - dem sogenannten Alterszucker - bekommen. Sulfonylharnstoff-Tabletten fördern die Freisetzung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse.

Doch während Erwachsene Pillen mit mindestens 1,75 Milligramm des Wirkstoffs erhalten, braucht Daniel lediglich 0,02 bis 1,1 Milligramm. Deshalb stellt eine Apotheke entsprechende Kapseln individuell für Daniel her.

Dr. Näke schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass er irgendwann doch insulinpflichtig wird, auf etwa 50 Prozent ein. "Heute ist Daniel 95 cm groß und wiegt 12,5 Kilo", freut sich Mutti Valeria.

Seltene Krankheit #3: Elfjährige erleidet Fieberschübe wegen eines Proteins

Hat ihre Fieberschübe im Griff: Immunologin Prof. Catharina Schütz mit ihrer kleinen Patientin Jessica-Emilia (11).
Hat ihre Fieberschübe im Griff: Immunologin Prof. Catharina Schütz mit ihrer kleinen Patientin Jessica-Emilia (11).  © Uniklinikum Dresden

Als Jessica-Emilia (11) aus dem Spreewald im Kindergartenalter immer wieder mit tagelang anhaltendem Fieber zu Hause bleiben musste, waren ihre Eltern noch nicht beunruhigt.

"Doch als die Fieberschübe immer häufiger wurden, das Thermometer auf 41 Grad kletterte und auch keine fiebersenkenden Medikamente und Antibiotika halfen, machten wir uns große Sorgen", sagt ihre Mutti Nancy Groß (43).

Jessica-Emilia litt zudem unter Kopf-, Bauch- und Muskelschmerzen, musste immer wieder ins Krankenhaus. Schließlich konnte sie vor Schwäche nicht mehr in die Schule gehen.

Erst nach einer zweieinhalbjährigen Odyssee von Klinik zu Klinik und Arzt zu Arzt konnte nach einem Gentest endlich eine sichere Diagnose gestellt werden: Das Mädchen leidet unter dem TRAPS-Syndrom - eine Kombination ganz unterschiedlicher Krankheitsmerkmale.

Auslöser ist die angeborene Anomalie eines Proteins, das bei Patienten eine gesteigerte Entzündungsreaktion und Fieber verursacht. Die auf Kinder-Immunologie spezialisierte Prof. Catharina Schütz von an der Uniklinik Dresden stellt ihre kleine Patientin aktuell auf eine Spritzentherapie mit antientzündlichen Medikamenten ein.

"Ihre Fieberschübe sind seltener und kürzer geworden und sie kann wieder regelmäßig zur Schule gehen", freut sich ihre Mutti.

Titelfoto: Norbert Neumann

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