Leben mit Borderline: Mein Spiegelbild, das bin nicht ich

Dahlen - Wenn Anja Fuchs etwas fühlt, dann oft so viel auf einmal, dass sie kaum weiß, wohin mit ihren Emotionen. Die 37-Jährige leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Was es damit auf sich hat, wissen nur die wenigsten. Die komplexe Krankheit ist nicht leicht zu verstehen.

Anja Fuchs (37) aus Nordsachsen lebt mit der Borderline-Störung.
Anja Fuchs (37) aus Nordsachsen lebt mit der Borderline-Störung.  © Petra Hornig

Ohne ihren Notfallkoffer verlässt die Dahlenerin Anja Fuchs nicht das Haus. Ein Igelball, scharfe Kaugummis, Ammoniak-Riechampulle, ein Lippenpflegestift, der nach Erdbeere riecht und Kärtchen, die ihr sagen, was sie tun muss, wenn ihre Anspannung auf einer Skala von 0 bis 100 auf über 70 steigt.

Kaugummi kauen oder Ammoniak riechen - Schritte, die sie immer und immer wiederholen muss, um zu sich zurückzufinden.

Anja Fuchs, 37 Jahre, ist Borderlinerin. Menschen mit dieser Persönlichkeitsstörung haben ein verzerrtes Selbstbild, können nur schwer ihre Impulse kontrollieren und hadern mit stark schwankenden Emotionen.

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Das Krankheitsbild ist für die meisten nur schwer zu verstehen. "Mir steht meine Krankheit ja nicht auf der Stirn geschrieben, fällt nicht so auf wie ein gebrochener Arm", sagt Anja Fuchs.

Borderline-Persönlichkeitsstörung wurde im Vorjahr attestiert

Anja Fuchs (37) aus Nordsachsen lebt mit der Borderline-Störung.
Anja Fuchs (37) aus Nordsachsen lebt mit der Borderline-Störung.  © Petra Hornig

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung attestierte ihr ein Arzt im vergangenen Jahr.

Dass etwas mit ihr nicht stimmt, merkte die Sächsin aber schon früh.

Sie hatte und hat Angst vor Räumen mit vielen Menschen, ständig wiederkehrende Depressionen, Stimmungsschwankungen.

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Ihre Selbstwahrnehmung war gestört. "Ich fühle mich wie unwirklich. Ich schaue in den Spiegel und kann nicht begreifen, dass ich das bin", sagt Anja. "Als würde da jemand anderes stehen." Außerdem, sagt sie, werde sie schnell wütend, kann mitunter sehr verletzend werden.

Das ist ganz typisch: Impulsen nachgehen, ohne an die Konsequenzen zu denken. Die Borderline-Störung macht Anja zudem hoch emotional. "Ich fühle zehnmal mehr als ein normaler Mensch", sagt die 37-Jährige.

Dinge, die andere Menschen leicht wegstecken, ziehen ihre Laune extrem runter. Binnen weniger Sekunden kann ihre Rationalität unkontrollierbarer Wut weichen, nur ein falscher Satz kann sie verunsichern oder auf die Palme bringen. "Ich bin sehr empathisch, habe ein stark ausgeprägtes Helfersyndrom. Deshalb bin ich auch oft an narzisstische, gewalttätige und alkoholabhängige Männer geraten."

Wenn emotionaler Stress zu hoch wird, sucht Borderlinerin Lösungen, um diesen abzubauen

Ohne ihre Notfall-Utensilien geht Anja Fuchs nie aus dem Haus.
Ohne ihre Notfall-Utensilien geht Anja Fuchs nie aus dem Haus.  © Petra Hornig

Wenn der emotionale Stress für Anja zu hoch wird, sucht sie nach Lösungen, um die Anspannungen abzubauen.

"Geritzt" hat sich Anja nie. Ihre Art sich zu betäuben waren Alkohol, Zigaretten, Drogen - und vor allem Sex. "Über Sex habe ich versucht mich an die Männer zu binden. Ich dachte, dann verlassen sie mich nicht."

Immer wieder war sie auf der Suche nach dem perfekten Mann. Das selbstschädigende Verhalten hat Anja aber mittlerweile abgelegt. Ihr einziges Laster: Zigaretten.

Die Ursprünge einer Borderline-Störung sind vielfältig. In den meisten Fällen wird sie durch ein Trauma hervorgerufen, etwa in der Kindheit. An welchem Punkt Anja Fuchs' Leben aus den Fugen geriet, kann sie nicht sagen.

Sofort schießen Anja aber Erlebnisse in den Kopf, an die sich erinnert: Mit 12 Jahren wurde sie von fünf Jungs missbraucht, zu Hause hatte sie oft Gewalt erfahren, eine Krebserkrankung und später der Tod ihres geliebten Opas. Aber eigentlich, so sagt sie, hätte sie eine gute Kindheit gehabt.

Anja Fuchs hat gelernt, ihr Leben zu strukturieren

Wenn die innere Anspannung zu hoch ist, wirft die Borderline-Patientin einen Blick auf ihre Karten.
Wenn die innere Anspannung zu hoch ist, wirft die Borderline-Patientin einen Blick auf ihre Karten.  © Petra Hornig

Anja Fuchs lernt seit ihrer Diagnose, ihr Leben zu strukturieren, die Krankheit zu akzeptieren und mit ihr zu leben.

"So blöd es klingt, aber manchmal versuche ich mich zu beruhigen, indem ich wortwörtlich mit meinem inneren Kind rede", sagt sie.

"Auf der Fahrt nach Dresden zu meiner Gruppentherapie zum Beispiel, da stelle ich mir vor, mein inneres Kind würde auf dem Beifahrersitz sitzen und ich quatsche dann mit ihm." Energie, Ruhe und Kraft zieht sie aus der Beziehung zu ihrem Lebenspartner. Bald wollen die beiden ein eigenes gemeinsames Nest beziehen. Ihr langfristiges Ziel: Haus, Kinder, Job. Zurzeit arbeitet sie selbstständig als Fotografin.

Anja Fuchs wird immer emotionaler und empathischer sein als die meisten Menschen um sie herum. Geheilt werden kann sie nicht. Von einem normalen Leben, sagt sie, sei sie noch weit entfernt. Zu sehr hat die Krankheit sie unter Kontrolle. "Aber man kann stabil sein."

Zwischen Gefühlsachterbahn und Depressionen: Borderliner haben Schwierigkeiten, ihre Impulse zu regulieren.
Zwischen Gefühlsachterbahn und Depressionen: Borderliner haben Schwierigkeiten, ihre Impulse zu regulieren.  © 123RF / Kevron 2001
Borderline ist nicht heilbar - aber Betroffene können einen Weg finden, um stabil zu bleiben.
Borderline ist nicht heilbar - aber Betroffene können einen Weg finden, um stabil zu bleiben.  © 123 / Sam Wordley

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