Kurt Biedenkopf exklusiv: "Ich bin stolz darauf, die Menschen erreicht zu haben"
Dresden - Von 1990 bis 2002 lenkte der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf als Ministerpräsident die Geschicke des jungen Freistaates Sachsen. Er ging in die Landesgeschichte als "König Kurt" ein. Verklärt blickt mancher Sachse heute zurück auf diese Ära. Am Dienstag wird Kurt Biedenkopf seinen 90. Geburtstag in Dresden feiern. Im TAG24-Interview mit den Redakteurinnen Juliane Morgenroth und Pia Lucchesi erinnert er sich an seine Amtszeit und erklärt, warum er ein Fan von Angela Merkel und Michael Kretschmer ist.

TAG24: Herr Biedenkopf, wie geht es Ihnen und Ihrer Frau?
Kurt Biedenkopf: Danke. Meiner Frau und mir geht es gut. Und ich bin dankbar dafür, dass ich noch arbeiten kann.
TAG24: Woran arbeiten Sie gegenwärtig?
Biedenkopf: Ich beschäftige mich mit der Frage der Fragen - dem Verhältnis von Freiheit und Macht. Hinzu kommt zunehmend die Frage, wie man die Gesellschaft zusammenzuhalten kann. Das trifft nicht nur auf Deutschland zu, sondern auf ganz Europa und auch Amerika. Meine Annahme dazu ist, dass die enorme Geschwindigkeit der Veränderung die Menschen zerreibt. Die Digitalisierung wälzt die ganze Gesellschaft um. Dieses Wegfallen von Kontinuitäten bedeutet, dass der Zusammenhalt fragiler wird. Und dann nimmt der Populismus zu. Er erscheint den Menschen als einfach, ist aber keine Lösung. Das sehen wir in Italien.
TAG24: Machen Sie sich deshalb Sorgen?
Biedenkopf: Nein. Wenn man damit anfängt, wird es nichts.
Kurt Biedenkopf über die Festveranstaltung zu seinem 90. Geburtstag

TAG24: Sprechen wir über Ihren 90. Geburtstag. Es wird eine große Festveranstaltung für Sie in der Frauenkirche organisiert. Auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel wird kommen ...
Biedenkopf: Da freue ich mich drüber. Ihre Kanzlerschaft prägt die Zeit und Deutschland so wie die einst von Konrad Adenauer. Angela Merkel hat Außerordentliches erreicht - besonders in der Außenpolitik. Denken Sie an die Libyen-Konferenz jüngst in Berlin. Große Staatenlenker kamen da zusammen und sie steht in der Mitte und schnappt nicht über. Das ist phänomenal.
TAG24: Gibt es noch andere Menschen in der Gästeschar, auf die sie sich besonders freuen?
Biedenkopf: Oh Gott, wen soll ich aus den tausend Menschen aussuchen? Ich freue mich auf jeden, der kommt und lasse mich überraschen.
TAG24: Bitte blicken Sie für uns zurück auf Ihre zwölfjährige Amtszeit als erster Ministerpräsident Sachsens. Worauf sind Sie stolz?
Biedenkopf: Ich bin stolz darauf, die Menschen erreicht zu haben. Ich konnte Grundlagen schaffen. Ich bin glücklich, dass ich die Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks in die Wege leiten konnte. Das waren damals 1990 zwei Telefongespräche mit meinen Amtskollegen in Sachsen-Anhalt und Thüringen. Ich finde, der MDR ist ein guter Sender geworden. Er hat Enormes für die Region geleistet - besonders für das Zusammenwachsen von Ost und West. Vergessen Sie nicht: 30 Jahre reichen nicht aus, um eine andere Welt zu überwinden.
Herr Biedenkopf, haben Sie sich etwas vorzuwerfen?

TAG24: Haben Sie sich rückblickend etwas vorzuwerfen?
Biedenkopf: Ich werde nicht mit Intrigen fertig. Ich falle auf sie rein. Ich kann das nicht. Für mich ist dienen das Wichtigste. Natürlich hatte ich Krach mit Leuten, aber ich habe mich immer entschuldigt und nicht die Würde der Menschen angegriffen. Meine Frau handelt ebenso. Wissen Sie eigentlich, dass ich ohne meine Frau nie nach Sachsen gekommen wäre? Ich hatte wenig Interesse, doch als Lothar Späth anrief, entschieden meine Frau und ich, dass wir die Aufgabe annehmen und dem Ruf nach Dresden folgen sollten.
TAG24: Ihre Frau unterstützte sie aktiv im Amt. Sie kümmerte sich um Eingaben, die an die Regierung geschrieben worden sind. Waschkörbeweise trug man damals die Post in ihr Büro.
Biedenkopf: Wir waren der Meinung, dass alle Eingaben aus der Bevölkerung bearbeitet werden sollten. Meine Frau übernahm diese Aufgabe mit später vier Mitarbeiterinnen. Das war ihre wohl wichtigste Aufgabe. Dafür hat sie häufig auch zehn Stunden am Tag gearbeitet und das während der zwölf Jahre meiner Regierungszeit. Sie hat ein glänzendes Urteil über Menschen. Durch sie wusste ich als Ministerpräsident auch immer Bescheid, was die Menschen in Sachsen bewegt. In Schlema hat man meiner Frau sogar für ihr Engagement ein Denkmal gesetzt.
TAG24: Damals hatte Ihre CDU die absolute Mehrheit in Sachsen. Heute braucht die CDU gleich zwei Partner zum Regieren, Grüne und SPD....
Biedenkopf: Ich sehe, was Ministerpräsident Kretschmer leistet. Ich finde ihn außerordentlich begabt. Er hat sein Bundestagsmandat verloren gegen einen AfD-Mann, aber nicht seinen Mut. Das bewundere ich. Er wird das schaffen. Wenn nicht, dann kann es nur sehr sehr schwierig werden.
Was der Ex-Ministerpräsident über die AfD denkt

TAG24: Sind Dreierbündnisse eine gute Idee in der Politik?
Biedenkopf: Ich habe nicht das Geringste dagegen, wenn sich drei oder vier Parteien zusammentun, um gemeinsam eine Aufgabe zu lösen. Aber sie dürfen dabei nicht ständig ihre Beschlüsse in Frage stellen und sich gegenseitig mit dem Ausstieg aus der Koalition drohen. Denn diese dauernde Verhandlerei verstehen die Leute nicht.
TAG24: Größte Oppositionspartei ist mittlerweile die AfD. Halten Sie es für möglich, dass diese Partei einmal in Sachsen regiert?
Biedenkopf: Das halte ich für unwahrscheinlich. Gleichwohl haben wir Fehler im Umgang mit der AfD gemacht. In Ostdeutschland ist die AfD heute rund dreimal erfolgreicher als in Westdeutschland. Das hat auch damit zu tun, dass die Erfahrung mit dem Umgang mit Freiheit und Sicherheit in Ostdeutschland noch fragiler ist als in dem weit älteren Bereich des westdeutschen Teils. Die eigentlichen Grundlagen und auch Vorstellungen der AfD sind abenteuerlich und machtorientiert. Wenn es dieser Partei langfristig gelingen sollte, die Bevölkerung in Ostdeutschland zu beeinflussen und sie von Westdeutschland zu entfernen, hätte das für ganz Deutschland und seine Einheit gefährliche Folgen. Insbesondere wäre die Bevölkerung durch derartige Trennungen isoliert und würde auf frühere Erfahrungen vor der Wiedervereinigung verwiesen.
TAG24: Wer sich heutzutage politisch betätigt, wird oft bedroht, auch mit Mord. Wären Sie unter diesen Bedingungen auch in die Politik gegangen?
Biedenkopf: Ja. Was ist denn Wolfgang Schäuble 1990 passiert? Genau dasselbe. Da war ein Verrückter im Saal und hat auf ihn geschossen. Zweimal. Das kann tatsächlich passieren, trotz ausreichender Kontrollen. Wenn man den Anspruch hat, das Land zu gestalten, wird man immer auf Kräfte stoßen, die das nicht wollen oder darauf aus sind, die Veränderungen zu verhindern. Man darf sich vor dem Hass nicht verstecken, sonst kann man nichts bewirken.
Kann Kurt Biedenkopf eigentlich unerkannt durch Dresden bummeln?

TAG24: Sie sind seit 2002 nicht mehr im Amt. Können Sie eigentlich wieder unerkannt durch Dresden bummeln?
Biedenkopf: Meist nicht. Die Geburtstagsfeier ist auch eine Resonanz dessen, was Ingrid und ich im ganzen Land immer wieder erleben. Dass uns Menschen begrüßen und sich für unsere Arbeit bedanken.
TAG24: Das ist heute noch so?
Biedenkopf: Ja sicher. Ich habe so nicht bewusst, aber im Ergebnis auch Maßstäbe gesetzt. Und das war ein Problem für meine Nachfolger im Amt Georg Milbradt und Stanislaw Tillich, die gewohnt waren, anders zu handeln. Das nehme ich ihnen nicht übel. Denn zu einer bestimmten Offenheit gegenüber der Bevölkerung muss eine entsprechende Einstellung bestehen, die nicht auf Regieren, sondern auf Führen ausgerichtet ist. Ich habe diese Einstellung im Laufe meines Lebens entwickelt: als Rektor einer Universität, als Vorstand von Henkel und CDU-Staatssekretär. Ich war auch immer Wissenschaftler und Lehrer mit dem Bedürfnis, Wissen zu vermitteln und Zusammenhänge zu erklären.
TAG24: Haben Sie eigentlich ein mulmiges Gefühl, wenn Sie an den Geburtstagstrubel am kommenden Dienstag denken?
Biedenkopf: (Lacht schelmisch) Warum soll ich um Gottes Willen den Menschen ihre Freude daran nehmen, mit einem Mann und seiner Frau zu feiern, die hierherkamen und versuchten zu helfen und Sachsen zu werden! Es geht mir immer um das Dienen. Ich habe das immer so gesehen. Ich freue mich über die Anerkennung. Nicht über die Größe der Feier.


Titelfoto: Eric Münch