Dieser Psychiater versucht, die Hells Angels zu entschlüsseln

Leipzig - Nach 84 Verhandlungstagen und rund 250 gehörten Zeugen geht der große Leipziger Rocker-Prozess um die tödlichen Schüsse auf der Eisenbahnstraße seinem Ende entgegen. Am Dienstag versuchte der Gerichtspsychiater, einen Einblick in die Seelen der Hells Angels zu geben.

Stefan S. soll die tödlichen Schüsse auf den Tribuns-Rocker Veysel A. (27) abgegeben haben - möglicherweise aus purer Angst.
Stefan S. soll die tödlichen Schüsse auf den Tribuns-Rocker Veysel A. (27) abgegeben haben - möglicherweise aus purer Angst.  © Ralf Seegers

Seit nunmehr über anderthalb Jahren verhandelt das Leipziger Schwurgericht unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen gegen die vier wegen gemeinschaftlichen Mordes angeklagten Höllenengel (TAG24 berichtete). So lange verfolgt auch Dr. Frank Wendt (52) das Geschehen im Sitzungssaal 115. Gestern war der große Tag des Psychiaters der Berliner Charité.

Den mutmaßlichen Todesschützen Stefan S. (33) beschrieb der Experte als "vorsichtigen, sozial ungeschickten" Menschen. Nicht dumm, aber "intellektuell im unteren Bereich der Norm". Für das Trennungskind sei "Dazugehören" ein wichtiges Thema, so Wendt. Zuerst war sein Anker die Freiwillige Feuerwehr, in der sich S. zehn Jahre engagiert habe. Später wurden die "Hells Angels" seine Familie.

Durch Gewaltbereitschaft fiel der Maler zuvor nie auf. Eher war er es, der einstecken musste. Etwa zum Hochwasser 2013, als er trotz Krankschreibung im Muldental Fluthilfe leistete, deshalb Job und Abfindungsansprüche verlor. Sein Chef hatte ihn zuvor auf einem Zeitungsfoto erkannt.

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Oder an jenem verhängnisvollen 26. Juni 2016, als Stefan S. von einem Rocker der United Tribuns auf dem Weg zum Tattoo-Studio Prügel bezog, was Stunden später zum tödlichen Aufeinandertreffen beider Clubs führte.

Gerichtspsychiater Dr. Frank Wendt (52) sieht in dem der Todesschüsse bezichtigten Hells Angel Stefan S. einen "vorsichtigen, sozial ungeschickten Menschen".
Gerichtspsychiater Dr. Frank Wendt (52) sieht in dem der Todesschüsse bezichtigten Hells Angel Stefan S. einen "vorsichtigen, sozial ungeschickten Menschen".  © Ralf Seegers

Der Psychiater verriet auch, dass sich Stefan S. schon ein Vierteljahr vor der Schießerei kaum noch nach Hause getraut hatte, gar an depressiven Verstimmungen litt.

Grund: Die Wohnung des chronisch klammen Rockers lag ausgerechnet an der Eisenbahnstraße - jenem Kiez also, den die Erzfeinde der United Tribuns für sich beanspruchten. "Aus finanziellen Gründen konnte er die Wohnung aber nicht wechseln", erklärte Dr. Wendt, dessen Expertise ein anderes Bild zeichnete, als jenes vom knallharten und finanziell potenten Hells-Angel-Rocker.

Der Anwalt des mutmaßlichen Todesschützen, Curt-Matthias Engel, glaubt gar, dass Stefan S. aus purer Angst die Pistole bei sich führte und beim Angriff der Tribuns panisch abdrückte. Forensiker Wendt hält dies für möglich, sieht aus psychiatrischer Sicht aber keinen Ansatz für eine verminderte Schuldfähigkeit.

Auch bei den drei anderen angeklagten Hells Angels sah Wendt keine Anhaltspunkte für Schuldminderung. Allerdings hatten Marcus M. (36), Ferenc B. (42) und Frank M. (47) den Gerichtspsychiater auch abblitzen lassen. Nur Stefan S. hatte sich während der U-Haft mit dem Seelen-Doc unterhalten.

Der Rockerprozess ist nunmehr auf der Zielgeraden angekommen. Nächste Woche wird der Rechtsmediziner sein Gutachten erstatten, zudem wurde der Digital-Forensiker Professor Dirk Labudde (52) noch einmal geladen, um offenen Fragen zum Tatvideo zu klären.

Danach sollen schon die Plädoyers gehalten werden. Mit einem Urteil ist noch im Mai zu rechnen.

Stefan S. half im Juni 2013 mit anderen Hells Angels bei der Beseitigung der Flutschäden an der Mulde. Weil er eigentlich krankgeschrieben war und sein Chef das Foto in der Zeitung sah, verlor er nach dem Einsatz Job und Abfindungsansprüche.
Stefan S. half im Juni 2013 mit anderen Hells Angels bei der Beseitigung der Flutschäden an der Mulde. Weil er eigentlich krankgeschrieben war und sein Chef das Foto in der Zeitung sah, verlor er nach dem Einsatz Job und Abfindungsansprüche.  © Frank Schmidt
Dieses Colour ist längst Geschichte: Das Leipziger Charter der Hells Angels löste sich 2016 nach der Schießerei mit den United Tribuns auf. Das Tragen der Kutte mit dem geflügelten Totenkopf ist in Deutschland mittlerweile verboten.
Dieses Colour ist längst Geschichte: Das Leipziger Charter der Hells Angels löste sich 2016 nach der Schießerei mit den United Tribuns auf. Das Tragen der Kutte mit dem geflügelten Totenkopf ist in Deutschland mittlerweile verboten.  

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