Mangellage beunruhigt Patienten und Mediziner: Medikamente knapp - was nun?
Deutschland - Stell Dir vor, Du bist krank. Und kein Apotheker hat die Medizin, die Dir hilft. Ein Alptraum! Doch leider auch ein Stück Realität, denn in Deutschland nehmen die Lieferengpässe bei Medikamenten seit drei Jahren dramatisch zu. Ärzte, Apotheker und Patientenverbände schlagen Alarm und fordern von der Politik ein rasches Eingreifen.
Die Datenbank des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) listete Freitagvormittag 291 Lieferengpässe für Humanarzneimittel in Deutschland (ohne Impfstoffe) auf.
"Die Probleme sind bedeutend. Lieferengpässe gab es in der Vergangenheit immer wieder mal. In den vergangenen drei Jahren hat jedoch die Zahl und Länge dieser sogenannten 'Defekte' dramatisch zugenommen", sagt Susanne Donner (49).
Sie ist Inhaberin der Heide-Apotheke am Krankenhaus in Dippoldiswalde und Mitglied des Vorstandes des Sächsischen Apothekerverbandes.
Lieferengpässe gibt es dabei nicht nur bei Nischenprodukten, sondern auch bei gängigen Mitteln. Gegenwärtig sind zum Beispiel Fiebersäfte für Kinder mit den Wirkstoffen Paracetamol und Ibuprofen nur beschränkt verfügbar.
Auch Antibiotika, tamoxifenhaltige Arzneimittel zur Brustkrebsbehandlung sowie Elektrolyte laufen unter "Mangelware". Phasenweise waren bereits Mittel gegen Bluthochdruck und Diabetes nicht erhältlich.
Susanne Donner: "Die Lieferengpässe bescheren den Apotheken tagtäglich enorm viel Mehrarbeit bei der Logistik, Beschaffung und Beratung." Während sich in vielen Fällen mit einigem Aufwand ein Ausweichmittel mit demselben oder einem ähnlichen Wirkstoff finden oder durch den Apotheker herstellen lässt, gibt es manchmal keinerlei Alternative, die den Patienten angeboten werden kann.
Lieferengpässe und Versorgungsengpässe sind nicht dasselbe
Patientenvertreter beklagen diese Zustände lautstark, denn sie stellen für viele Menschen eine extrem belastende Situation dar. Ihnen bleibt vielmals nichts anderes übrig, als Apotheken "abzuklappern", um ihre Arznei zu bekommen. Gerade für ältere Menschen und chronisch Kranke stellt das eine zusätzliche Belastung dar, die für manche nicht zu leisten ist.
Nach Einschätzung des Sächsischen Sozialministerium besteht "eine ernsthafte Gefahr für die Versorgung der Bevölkerung derzeit nicht, da die meistbetroffenen Generika, sogenannte wirkstoffgleiche Nachahmerprodukte, durch andere auf dem Markt befindliche Alternativarzneimittel ersetzt werden können".
In diesem Zusammenhang weist das Haus von Petra Köpping (SPD, 64) darauf hin, dass Lieferengpässe bei Arzneimitteln nicht mit Versorgungsengpässen gleichzusetzen seien.
Ein Versorgungsengpass zeichne sich dadurch aus, dass keine bzw. nicht ausreichend viele alternative Arzneimittel für die Therapie zur Verfügung stünden. Für Betroffene ist diese Unterscheidung mitunter schwer zu verstehen...
Die Verlagerung der Produktion ist nur ein Teil des Problems
Die Ursachen für die Lieferengpässe sind vielfältig. Doch ein paar Gründe stechen heraus: In den 2010er Jahren fuhren die bis dato breit aufgestellten Pharmafirmen drastisch ihre Produktion in Deutschland und Europa zurück. Sie verlagerten all jene Standorte ins Ausland, die nicht gewinnbringend erschienen, um Herstellungskosten zu optimieren.
Die Krankenkassen forcierten den Trend, denn sie schlossen mit Pharmaherstellern Rabattverträge für Medikamente oder ganze Sortimente. Im Gegenzug sicherte die jeweilige Krankenkasse zu, dass alle ihre Versicherten im Normalfall künftig nur dieses Präparat erhalten.
"Ein europäischer Hersteller kann dabei mit den niedrigen Lohnkosten sowie den geringeren Sozial- und Umweltstandards in China oder Indien nicht mithalten", stellt Sylvia Krug (65) fest, die Vize-Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen.
Ampel möchte Wirkstoffproduktion nach Deutschland zurückzuholen
So entstanden in Asien Fabriken, die als Produzenten von bestimmten Wirkstoffen und Wirkstoffklassen die halbe Welt beliefern. Mittlerweile genügt eine mittelschwere Havarie bei einem dieser Hersteller (oder logistische Probleme) und der Weltmarkt bebt, denn andere Betriebe können den Ausfall nicht mehr ausgleichen.
"Diese 'Geiz ist Geil Mentalität' führt nun zu einer Gefährdung von Patienten in Deutschland, wenn Medikamente fehlen. Eine kurzfristige Entspannung ist aus meiner Sicht nicht möglich, da man Produktionskapazitäten und -standorte nicht von jetzt auf gleich in Deutschland aufbauen kann", erklärt Erik Bodendieck (55), Präsident der Sächsischen Landesärztekammer.
Die Berliner Ampelkoalition möchte die Wirkstoff- und Hilfsstoffproduktion nach Deutschland oder in die EU zurückzuholen. Das Sächsische Sozialministerium unterstützt das Vorhaben und fördert hierzulande Forschung und Unternehmensgründungen.
Patienten-Lobby setzt auch auf Digitalisierung
Das Thema "Lieferengpässe" ist bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) seit Jahren ein Dauerthema. Die UPD fordert darum weit mehr als nur langfristige Strategien zur Beseitigung der Misere. "Kurz- und mittelfristig ist aus Patientensicht wünschenswert, dem Thema mit einem höheren Maß an Transparenz zu begegnen", erklärt UPD-Sprecher Markus Hüttmann.
Er verweist darauf, dass es heute selbstverständlich ist, vorab online mit ein paar Klicks das lieferfähige Warenangebot von Möbel- oder Kaufhäusern zu prüfen. Bei der Medikamentenversorgung der Bevölkerung ist das jedoch nicht möglich. Das erscheint ihm absurd.
"Patientenorientierung ist oft noch ein Fremdwort. Auch hier zeigt sich leider, wie sehr die Digitalisierung im Gesundheitswesen zum Leidwesen der Patienten um Jahre nachhinkt. Hier muss ganz dringend gehandelt werden", so Hüttmann.
UPD-Beratung: Telefon 0800 011 77 22 (gebührenfrei aus allen Netzen), Mo.-Fr. 8 bis 20 Uhr und Sa. 8 bis 16 Uhr, www.patientenberatung.de
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