"Immer im Außnahmezustand": AfD-Politiker reißt Lauterbach-Zitat komplett aus dem Kontext

Berlin - Der Satz klingt vor allem in den Ohren vieler Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen wie eine Drohung: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (59) soll gesagt haben: "Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein." Gewissermaßen als Antwort daneben steht ein Zitat Willy Brands, in dem er warnt, wer mit "dem Notstand spiele" fände ihn und seine Freunde "auf den Barrikaden". Doch beide sprechen über ganz unterschiedliche Dinge.

Zitate bekommen eine ganz neue Bedeutung, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt. Das ist mit einer Aussage von Karl Lauterbach (59) und einer von Willy Brand geschehen, in denen es um "Ausnahmezustand" und "Notstand" geht.
Zitate bekommen eine ganz neue Bedeutung, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt. Das ist mit einer Aussage von Karl Lauterbach (59) und einer von Willy Brand geschehen, in denen es um "Ausnahmezustand" und "Notstand" geht.  © Fabian Sommer/dpa

Klar ist: Karl Lauterbach hat sich tatsächlich so geäußert, das Gespräch fand im März 2022 in Berlin statt und wurde vom RBB-Sender Radio Eins veranstaltet.

Die nun kursierende Aussage von Lauterbach ist eingebettet in weitere Sätze von ihm - und stellt eine Reaktion auf eine Wortmeldung der Ökonomin Claudia Kemfert (53) dar, die mit Lauterbach diskutierte.

Kemfert spricht über verschiedene Krisen, die aus ihrer Sicht miteinander zu tun haben: Die Corona-Pandemie, die Energieversorgung, die bedrohte Biodiversität und auch der Ukraine-Krieg.

Ostdeutsche Landtage wollen Sender beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk streichen!
Politik Ostdeutsche Landtage wollen Sender beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk streichen!

Kurz vor Lauterbach sagt Kemfert unter anderem: "Es gibt kein Zurück zur Normalität mehr. Das ist unsere neue Normalität. Und diese neue Normalität müssen wir leben und mit der müssen wir auch umgehen."

Den Begriff "Normalität" greift Lauterbach dann auf: "Ich stimme zu: Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein. Der Klimawandel wird zwangsläufig mehr Pandemien bringen. Mehr Pandemien werden die Wirtschaft belasten, also unterbrechen. Wir kommen in eine Situation des globalen Wassermangels hinein und Kriege für Wasser sind fast unvermeidbar. Es sind riesige Wanderungen zu erwarten. Früher hat man gedacht, es wird Krieg um Öl geben. Die viel größere Wahrscheinlichkeit ist Krieg um Wasser."

Auch Lauterbach spricht also vor allem im Zusammenhang mit der zuvor erwähnten Klimakrise über einen "Ausnahmezustand". Im Kontext zeigt sich aber, dass er nicht über einen irgendwie politisch oder rechtlich definierten Ausnahmezustand spricht. Vielmehr geht es um eine neue Situation, in der bislang als Katastrophe empfundene Ereignisse normal werden.

Das Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt auf der rechten Seite der Text-Bild-Kachel gehört in einen völlig anderen Zusammenhang. Brandt äußerte sich einem damaligen Medienbericht zufolge tatsächlich so - und zwar im Jahr 1968, als er noch Vizekanzler in einer Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) war. Er bezog sich im Bundestag jedoch konkret auf von der Regierung geplante Änderungen des Grundgesetzes, die unter dem zusammenfassenden Begriff "Notstandsgesetze" diskutiert wurden.

Die Text-Bild-Kachel mit dem Vergleich der beiden Zitate geht auf einen AfD-Politiker zurück

Das besagte Zitat hat Lauterbach tatsächlich gesagt. Doch damit hat er die Klimakrise, und nicht die Coronakrise angesprochen.
Das besagte Zitat hat Lauterbach tatsächlich gesagt. Doch damit hat er die Klimakrise, und nicht die Coronakrise angesprochen.  © Fabian Sommer/dpa

Diesen Gesetzen waren mehrere Jahre politischen und gesellschaftlichen Streits vorausgegangen. Definiert wurde darin, welche Befugnisse Regierung und Sicherheitskräfte bekämen, wenn der Bundestag entweder den "Verteidigungsfall" oder den "Spannungsfall" ausruft. Ersterer kann ausgerufen werden, wenn die Bundesrepublik Deutschland "mit Waffengewalt angegriffen" wird.

Letzterer ist im Gesetz nicht klar definiert, beschreibt dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zufolge aber eine Situation, in der die außenpolitische Lage einen solchen Angriff sehr wahrscheinlich macht.

In beiden Fällen bekommen Bundesregierung, Bundeswehr und Sicherheitskräfte weitreichende Befugnisse im Inneren, die hauptsächlich in Artikel 87a und Artikel 91 des Grundgesetzes beschrieben werden. Letzterer gilt auch als Rahmen für den sogenannten "inneren Notstand", in dem der Bund oder einzelne Bundesländer die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht mehr garantieren können.

Heftige Vorwürfe: Ist die Schufa-Auskunft bald kostenlos?
Politik Heftige Vorwürfe: Ist die Schufa-Auskunft bald kostenlos?

Die vorgesehenen Grundrechtseinschränkungen in Krisensituationen wurden etwa von der damaligen Studentenbewegung stark kritisiert. Brandt warb mit seinem Satz um die Stimmen von Zweiflern in seiner Fraktion: "Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint."

Die "Notstandsgesetze" traten im Sommer 1968 in Kraft, angewendet wurden sie bislang aber nie - auch nicht in der Corona-Pandemie. Die Text-Bild-Kachel mit dem Vergleich der beiden Zitate geht auf einen AfD-Politiker zurück, der es im März auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht hatte. Es wurde später unter anderem von der Politikwissenschaftlerin und prominenten Corona-Maßnahmengegnerin Ulrike Guérot (58) mit dem Zusatz "Netzfundstück" auf Twitter verbreitet.

Titelfoto: Fabian Sommer/dpa

Mehr zum Thema Politik: