"Meinen Hass bekommt ihr nicht": Eine menschliche Antwort auf die Anschläge in Paris

Hamburg – Vor sieben Jahren erschütterten die Terroranschläge in Paris die ganze Welt. Journalist Antoine Leiris (41) verliert in der Schreckensnacht den Mittelpunkt seines Lebens: seine Frau. Seinem kleinen Sohn Melvil zuliebe versucht er nicht an der Trauer zu zerbrechen, sondern selbst in den dunkelsten Stunden Hoffnung zu finden. Sein Buch "Meinen Hass bekommt ihr nicht" ist die Vorlage für Kilian Riedhofs (51) gleichnamigen Kinofilm, der beim Filmfest Hamburg Deutschlandpremiere feierte. Im Interview mit TAG24 spricht der Regisseur über das Tabuthema Trauer und seine Motivation hinter dem Film.

Regisseur Kilian Riedhof beim 30. Filmfest Hamburg.
Regisseur Kilian Riedhof beim 30. Filmfest Hamburg.  © Axel Heimken/dpa

TAG24: "Meinen Hass bekommt ihr nicht" ist nicht nur eine Buchverfilmung, es ist auch die Verfilmung einer tatsächlichen Begebenheit, die aktuell immer noch viele Menschen bewegt. Welchen Unterschied macht das für Ihre Arbeit?

Riedhof: "Die Geschichte ist mir sehr nah, ich bin selber verheiratet und habe eine Tochter im selben Alter wie Melvil. Daher hat mich die Geschichte sehr schnell gepackt. Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich nicht nur eine große Verantwortung gegenüber Antoine habe, sondern auch diesem sehr spezifischen französischen Thema. Die Menschen in Paris haben ja fast alle eine Geschichte mit dem "Bataclan", sie wissen auch, was in dieser Nacht in der Stadt los war."

TAG24: Hat Antoine Leiris Ihnen verraten, warum er sich für Ihre Idee entscheiden hat? Er hatte doch bestimmt mehrere Angebote.

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Riedhof: "Er hat gespürt, dass wir eine gewisse Distanz zum Geschehen in Paris haben, und das fand er gut. Wir sind ja auch von einem Anschlag in Berlin betroffen gewesen, aber vielleicht ist der Anschlag in Paris in seiner Totalität noch einmal erschreckender und unfassbarer gewesen. Und dieser gewisse Abstand zum Epizentrum hat es uns ermöglicht, mitfühlend, aber nicht im Ereignis gefangen zu erzählen."

TAG24: Hat Antoine Leiris den Film bereits gesehen?

Riedhof: "Zu meiner großen Erleichterung liebt er den Film sehr und war überwältigt davon. Er hat gesagt, dass er sich selber in aller Ambivalenz hat erleben können und ist mit der Darstellung von Pierre Deladonchamps auch sehr glücklich. Er war uns dankbar, weil er sich plötzlich in dieser Phase selber betrachten konnte. In diesem Sinne ist es nicht nur für ihn, sondern auch für die Zuschauer des Filmes immer ein Angebot zur Bewältigung. Einen Raum aufzumachen, in dem man diese sehr traurige, aber auch Hoffnung machende Geschichte miteinander erleben kann."

Kinofilm "Meinen Hass bekommt ihr nicht": "Terrorismus ist ein Anschlag auf die Familie!"

Pierre Deladonchamps (44) als Antoine Leiris in "Meinen Hass bekommt ihr nicht".
Pierre Deladonchamps (44) als Antoine Leiris in "Meinen Hass bekommt ihr nicht".  © KomplizenFilm

TAG24: Die Trauerbewältigung ist leider noch oft ein Tabuthema. Die Angehörigen werden in Beachtung und Berichterstattung oft vergessen. Wollten Sie mit Ihrem Film ein Zeichen dagegen setzen?

Riedhof: "Absolut. Man sieht Terrorismus ganz oft aus der politischen beziehungsweise militärischen Perspektiven. Francois Hollande hat sehr schnell gesagt: 'Wir sind im Kriegszustand'. Das ist reflexhaft, um mit der Ohnmacht-Situation fertig zu werden. Die große Stärke bei der Geschichte von Antoine ist die menschliche, subjektive Sicht. Das ist ganz wichtig, ansonsten schieben wir das Eigentliche zur Seite. Terrorismus ist ein Anschlag auf die Familie, auf den inneren Kern des Zusammenlebens. Und genau dort müssen wir ihn auch besiegen, indem wir das, was wir lieben, und unsere eigene Kultur stark machen."

TAG24: Haben Sie sich deswegen bewusst für einen Kinofilm entschieden?

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Riedhof: "Im Kino herrscht eine große Sensibilität zum Film, aber auch im Publikum untereinander, es gibt ein hohes Niveau an Aufnahmebereitschaft. Terroristen wollen uns von unseren Plätzen vertreiben, uns Angst machen. Dadurch dass wir den Film jetzt in aller Öffentlichkeit zeigen und miteinander angstfrei empfinden, hoffe ich, dass wir ein Teil dazu beitragen, zu lernen, uns gegen die Kräfte von Außen zu behaupten."

Kilian Riedhof: "Der Terrorismus wird in Antoines vier Wände implementiert"

TAG24: Hatte Antoine Leiris irgendwelche Vorgaben?

Riedhof: "Die Wichtigste war die der Perspektive: Wir sollten die Geschehnisse im 'Bataclan' nicht dramatisieren. Das wollten wir selbst aber auch gar nicht. Alles andere hätte bedeutet, den Tätern eine Bühne zu geben und sie - und sei es in negativer Weise - zu glorifizieren. Es geht hier um einen inneren Verarbeitungsprozess, ein Mann muss seinen Hass überwinden, um weiterleben zu können. Der Terrorismus wird sozusagen in seine vier Wände implementiert. Es ging uns darum, negative Gefühle von Hass und Verzweiflung in seinem Appartement spürbar zu machen, auch wenn die Terroristen physisch nicht mehr anwesend waren."

TAG24: Durch den Fokus auf die Sichtweise von Antoine und seine starken Emotionen ist der Film sehr intensiv, ich hatte mehrere Male ein Kloß im Hals. Wie schafft man es bei so einem schweren Thema sein eigenes Wohlbefinden und das des Casts zu bewahren?

Riedhof: "Je mehr man sich in einen Stoff eingräbt, desto mehr überträgt dieser sich auf einen. Das ist ja auch eigentliche das spannende und aufregende daran, wenn man Kunst macht, dass die Dinge nicht äußerlich bleiben, sondern zu einer eigenen Erfahrung werden. Durch die Arbeit während des Lockdowns hieß es allerdings Distanz wahren. Umso schwieriger für uns, da sich die Situation von 2015 auf bizarre Weise auf den Dreh übertragen hat. Die Welt um uns herum war in einer Art Vakuum-Zustand. Es gab eben keine Chance der Kommunikation untereinander. Wir waren quasi alle isolierte Wesen. Und das auszuhalten und darauf zu vertrauen, dass das Leben weitergeht und eine neue Gemeinschaft wieder entstehen kann, darum ging es."

"Meinen Hass bekommt ihr nicht": Kinderschauspielerin Zoé Iorio leistet unglaubliches

Die dreijährige Zoé Iorio als Sohn Melvil in "Meinen Hass bekommt ihr nicht".
Die dreijährige Zoé Iorio als Sohn Melvil in "Meinen Hass bekommt ihr nicht".  © KomplizenFilm

TAG24: Ich war unglaublich beeindruckt von der dreijährige Zoé Iorio, die im Film die Rolle des Sohnes von Antoine Leiris übernimmt. Wie schafft man es, für eine so junge Schauspielerin, eine Vertrauensbasis aufzubauen und ihr die Emotionen zu vermitteln?

Riedhof: "Wir hatten eine sehr gute Kindercoachin aus Paris, die sehr viel Erfahrung damit hat. Zoé fiel uns schon beim Casting auf, weil sie nicht nur motorisch unterwegs war, sondern eine große Vorstellungskraft hatte. Man konnte ihr Dinge erzählen, die hinter einer Wand passierten, und hat dann ihre Gedanken und Gefühle in ihren Augen gesehen. Hätte die Arbeit mit Zoé nicht funktioniert, wäre auch der Stoff kollabiert, weil es ja genau um die Vater-Sohn-Beziehung geht."

TAG24: Neben Ihrem Film beschäftigen sich aktuell noch zwei weitere Filme mit den Anschlägen in Paris ("Novembre"und "Paris Memories"). Warum denken Sie, passiert das genau jetzt, sieben Jahre danach?

Riedhof: "Man braucht einen zeitlichen Abstand, um schmerzvolle, traumatische Ereignisse betrachten zu können. Wenn sie noch zu frisch sind, das kennen wir selber von Todesfällen oder Trennungen, steht man zu dicht davor. Und dass es jetzt passiert, zeigt, dass wir anfangen können, es zu verarbeiten und Stück für Stück als Geschichte zu akzeptieren und nicht als Gegenwart. Die Geschichte von Antoine soll vor allem Hoffnung machen und nicht in Trauer und Dunkelheit untergehen. Er zeigt ja gerade, wie auch ein fragiler Neustart gelingen kann. Für mich ist der Film eine Ode ans Leben."

"Meinen Hass bekommt ihr nicht" läuft ab dem 10. November in den deutschen Kinos.

Titelfoto: KomplizenFilm

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