Schmerzen, Schreie, Schwermut: "Vernichten" im Schauspielhaus ist trotzdem gutes Theater

Dresden - Nach annähernd vier Stunden ein Hoffnungsschimmer, bis dahin Depression. Sebastian Hartmanns Inszenierung des Michel-Houellebecq-Romans "Vernichten" ist herausforderndes Theater. Es ist auch herausragendes Theater.

Wie ein barockes Gemälde: Pauls geschundener Körper wird gewaschen von der liebenden Prudence.
Wie ein barockes Gemälde: Pauls geschundener Körper wird gewaschen von der liebenden Prudence.  © Sebastian Hoppe

Er glaube nicht, "dass es in unserer Macht lag, die Dinge zu ändern", sagt der sterbende Paul am Ende des Romans zu seiner wiedergewonnenen Ehefrau und formuliert damit eine Empfindung der Fremdheit den Dingen gegenüber.

Jenen Dingen, die die Dinge des Lebens sind - Gesellschaft, Politik, der Kosmos, die Mitmenschen und mittendrin das kleine, vereinzelte Leben, orientierungslos in sinnentleertem Dasein.

Empfänglichkeit für die "zärtliche Gleichgültigkeit der Welt", wie sie Houellebecqs Landsmann Albert Camus seinem "Fremden" angesichts gottloser Existenz einst zuschrieb, ist dem Moderne-Verächter Houellebecq nicht gegeben, seinen Romanen nicht, seinem Romanhelden Paul nicht - und wohl noch weniger dem Regisseur Hartmann.

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Der Schwärze des Stoffes entspricht die Schwärze der Bühne, der Kostüme, der Haltung. Hartmanns Inszenierung ist in ihrer Beschwörung der Aussichtslosigkeit noch hoffnungsloser als Houellebecqs Roman.

Paul Raison heißt der an Mundhöhlenkrebs erkrankte Held, Prudence seine fälschlich verloren geglaubte Ehefrau. Namen, die Programm sind, denn Raison bedeutet Vernunft, Prudence Vorsicht. Vernunft und Vorsicht werden verlieren, aber bis dahin haben sie die Liebe. Das ist nicht nichts.

Viele verlassen Theater fluchtartig in der Pause

Der Roman verschränkt Politik, Terror, Gesellschaft und ein großes Tableau von Figuren, darunter Pauls im Wachkoma vegetierenden Vater. Hartmann lässt das meiste weg oder reduziert es auf Andeutungen, manchmal höchst einfallsreich, wenn etwa der Lidschlag, über den Pauls Vater einzig noch kommuniziert, auf die Videoleinwand übertragen wird. Verfall ist das Thema, im übertragenen wie konkreten Sinne, wenn Pauls leibliches Leiden drastisch ausgeschmückt wird.

Hartmanns Theater ist nicht voraussetzungsfrei. Wer die originalen Werke seiner Literaturadaptionen nicht kennt, ist verloren. Wer sie kennt, hat zumindest eine Gehhilfe beim inneren Durchschreiten des Bühnengeschehens, das nicht Handlung und Geschichte ist, sondern aus Szenen, Collagen, Bildern und Assoziationen besteht - wofür der Regisseur das ganze multimediale Besteck des zeitgenössischen Theaters nutzt, als da sind Film (auch in 3-D), Live-Video und Live-Musik (Friederike Bernhardt) nebst Spiel und Sprache.

Die Inszenierung ist eine Zuspitzung des Stoffes. Sie ist voll von Schmerzen, Schreien und Schwermut, aufgefangen von bewegten Bildern, die so beziehungsreich und ausdrucksstark daherkommen, wie es barocke, romantische und expressionistische Gemälde sind, oder so psychedelisch wie ein Morphium-Trip.

Marin Blülle, Moritz Lippisch, Linda Pöppel, Torsten Ranft, Karoline Schmidt, Yassin Trabelsi, Viktor Tremmel, Simon Werdelis und Nadja Stübiger geben ein famoses Ensemble ab. Stübiger leitet mit einem selbst verfassten Schlussmonolog von Lied und Ansprache aus Gedanken des britischen Autors Edwin Abbott und des österreichischen Quantenphysikers Anton Zeilinger dann doch noch Hoffnung ab für die Zukunft des Menschenwesens. Was wäre auch Dunkelheit ohne Licht?

Wer den Premierenabend am Samstag durchhielt - viele hatten das Theater in den Pausen fluchtartig verlassen -, mag in die Nacht hinaustretend ein tiefes Wohlgefühl empfunden haben. Theatralische Düsternis ist ein Mittel der kritischen Kunst, die kühle Luft einer Frühlingsnacht eines der unbeugsamen Natur. Beides ist gelingendes Leben.

Titelfoto: Sebastian Hoppe

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