80 Jahre nach der Reichspogromnacht: Juden-Hass in Leipzig auch heute noch spürbar

Leipzig - Heute vor 80 Jahren begann für die Juden in Deutschland ein wahres Martyrium: Am Abend des 9. November 1938 wurden ihre Synagogen, Geschäfte und Schulen angezündet, Männer, Frauen und Kinder zusammengepfercht, gefoltert und ermordet. So auch in Leipzig. Besonders tragisch scheint es im Jahr 2018, dass Antisemitismus noch immer - beziehungsweise wieder - ein Thema ist, mit dem die Nachrichten gefüllt zu sein scheinen. Nun versucht die Leipziger Kommunalpolitik aktiv, dem Judenhass entgegenzuwirken.

Vor exakt 80 Jahren wurden auch in Leipzig jüdische Geschäfte und Wohnräume vernichtet, Juden verhaftet und verschleppt. (Symbolbild)
Vor exakt 80 Jahren wurden auch in Leipzig jüdische Geschäfte und Wohnräume vernichtet, Juden verhaftet und verschleppt. (Symbolbild)  © DPA

Was genau hatte sich in der Nacht zum 10. November 1938 in Leipzig zugetragen? TAG24 hat mit dem hier ansässigen Historiker Steffen Held gesprochen. Held hielt in der Woche, in der sich die Pogrome in Leipzig zum 80. Mal jähren, unter dem Titel "9. November 1938 in Leipzig: Der Pogrom an den Juden und seine Folgen" einen informativen Vortrag an der Volkshochschule. Er nimmt die Zuhörerschaft mit auf die Etappen der antisemitischen Übergriffe in jener kalten Herbstnacht.

Der Hass auf die Juden war spätestens in den 1930er-Jahren allgegenwärtig. Man gab dem Volk die Schuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg, der Überschuldung des Deutschen Reiches und hielt die Juden für eine minderwertige, den "Ariern" unterlegene "Rasse".

Als dann am 7. November 1938 der siebzehnjährige polnische Jude Herschel Grynszpan in der Deutschen Botschaft in Paris den der NSDAP angehörigen Legationssekretär Ernst Eduar vom Rath erschoss, war das für die Partei der perfekte Anlass, um eine deutschlandweite "Judenaktion" umzusetzen. So auch in Leipzig.

Am späten Abend des 9. November lobte Propagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) "spontane" judenfeindliche Aktionen im ganzen Reich. Stunden später brannte das erste jüdische Geschäftshaus in Leipzig: der Königsbau (ehem. Kaufhaus Bamberger & Hertz).

V.l.n.r.: Gemeinderabbiner Zsolt Balla, der Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft Leipzig Küf Kaufmann und Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung vor dem neuen Banner zur Erinnerung an die Pogromnacht am Neuen Rathaus.
V.l.n.r.: Gemeinderabbiner Zsolt Balla, der Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft Leipzig Küf Kaufmann und Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung vor dem neuen Banner zur Erinnerung an die Pogromnacht am Neuen Rathaus.  © DPA

Dabei handelte es sich um ein Konfektionsgeschäft an der Ecke Grimmaische Straße/Goethestraße am Augustusplatz. Die Geschäftsräume, die sich in den unteren Etagen befanden, wurden gegen 2.30 Uhr angezündet. "Das Haus konnte gerettet werden, das Geschäft aber war hinüber", so Steffen Held.

Danach brannte die Hauptsynagoge auf der Gottschedstraße. "Dabei handelte es sich um die erste Station organisierter Brandstiftung. Gegen 3.30 Uhr wurde die Synagoge mit Benzin angezündet. Gegen 4 Uhr tauchte die Feuerwehr auf, um umliegende Gebäude zu retten. Die Synagoge ließ man jedoch kontrolliert abbrennen", erzählt der Historiker. Eine zweite Synagoge, die Ez-Chaim-Synagoge in der Otto-Schill-Straße, wurde ebenfalls angezündet. Sechs weitere wurden zerstört, jedoch nicht niedergebrannt.

Dann wendeten sich die Nazis dem Neuen Israelitischen Friedhof zu. Dieser war erst zehn Jahre zuvor eingeweiht worden, als die große Trauerhalle an der heutigen Delitzscher Straße in Brand gesteckt wurde. Da der Kuppelbau bei dem Feuer nicht zerstört wurde, sprengte man das Gebäude im Februar 1939.

Auch vor jüdischen Schulen schreckten die Nazis in Leipzig nicht zurück. "Es gab einen Brand an der jüdischen Schule in der Gustav-Adolf-Straße, der jedoch von der Feuerwehr gelöscht wurde", erklärt Held.

Die Kosten für die Aufräumarbeiten nach den Novemberpogromen erlegte man den jüdischen Gemeinden auf.

Der Historiker Steffen Held erforscht jüdisches Leben in Leipzig.
Der Historiker Steffen Held erforscht jüdisches Leben in Leipzig.  © LinkedIn

Am 10. November trieb man die Juden aus Leipzig in das - zu dieser Zeit leere - Flussbett der Parthe, hielt sie dort stundenlang fest, drangsalierte sie. Die Truppen der Nationalsozialisten gingen in die Wohnungen von Juden, die in der Gohliser Krochsiedlung lebten. Sie wurden zur ehemaligen katholischen Volksschule getrieben und ebenfalls über mehrere Stunden festgehalten.

Zahlreiche Verhaftungen läuteten die dritte Phase der Reichskristallnacht ein. Heinrich Himmler ließ ab 6 Uhr morgens zahlreiche Juden verhaften und deportieren. 550 Juden wurden festgenommen, rund 400 von ihnen in Konzentrationslager verschleppt. Steffen Held: "Zahlreiche Leipziger Juden starben während der Novemberpogrome sowie an deren Folgen."

Erst am Nachmittag dieses kühlen Donnerstags befahl Goebbels, sämtliche Aktionen sofort einzustellen, denn diese liefen völlig aus dem Ruder, erzählt Steffen Held. Insgesamt wurden bis 1945 rund 14.000 Juden aus Leipzig ermordet.

Wo einst die Leipziger Synagoge stand, erinnern heute 140 Bronzestühle an die verfolgten und ermordeten jüdischen Bürger Leipzigs.
Wo einst die Leipziger Synagoge stand, erinnern heute 140 Bronzestühle an die verfolgten und ermordeten jüdischen Bürger Leipzigs.  © DPA

Dennoch lebt der Antisemitismus in Leipzig im Jahr 2018 spürbar auf. Die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU haben deshalb im Stadtrat einen Antrag unter dem Betreff "Gegen jeden Antisemitismus!" eingereicht.

Darin heißt es: "Leipzig bekennt sich zum Existenzrecht Israels, Leipzig bekennt sich zu seiner historischen Verantwortung aus dem Holocaust und einer demokratischen Erinnerungskultur. Das beinhaltet auch die finanzielle Absicherung der vielfältigen Gedenk- und Erinnerungsarbeit und das Gedenken an die Opfer. Die Aufklärung über den klassischen und israelbezogenen Antisemitismus, die Geschichte und Folgen des Nationalsozialismus und des Holocaust bildet für uns einen wesentlichen Kern der historisch-politischen Bildungsarbeit."

Die Fraktionen fordern die Stadtverwaltung dazu auf, bis Ende des kommenden Jahres ein Konzept zur Weiterentwicklung der Antisemitismus-Prävention in Leipzig vorzulegen. Dem "Kultur- und Begegnungszentrum Ariowitsch-Haus e.V. – Zentrum Jüdischer Kultur" sollen hierfür 30.000 Euro zukommen.

Weiter heißt es: "Organisationen, Vereine und Personen, die die Existenz Israels als jüdischen Staat delegitimieren oder anderweitig antisemitisch agieren, werden – soweit rechtlich möglich – keine Räumlichkeiten oder Flächen zur Verfügung gestellt. Sie sollen auch keine Zuwendungen oder Zuschüsse der Kommune erhalten. Die Stadtverwaltung wird aufgefordert, darauf hinzuwirken, dass auch die kommunalen Gesellschaften und Eigenbetriebe entsprechend verfahren."

Die Fraktionen hoffen darauf, das jüdische Leben in Leipzig so wieder aktiv stärken zu können.

"Deutsche wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!" steht auf den Schildern, die Männer der SA bei einem Hetzmarsch gegen Juden durch die Straßen Berlins tragen.
"Deutsche wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!" steht auf den Schildern, die Männer der SA bei einem Hetzmarsch gegen Juden durch die Straßen Berlins tragen.  © DPA