Eine Mutter kämpft um ihr Kind - und um ihren Ruf

Bianka (12) beim Angelausflug
mit ihrem Vater in der Schweiz.
Bianka (12) beim Angelausflug mit ihrem Vater in der Schweiz.

Von Rita Seyfert

Aue - Wie verzweifelt sich der Vater ihrer Tochter Bianka (12, Name geändert) fühlte, kann sich Manuela Richter (38) aus Aue gut vorstellen. Dass er seinem Kind nicht helfen konnte, damit wurde er nicht fertig.

Vor sechs Wochen brachte er sich um. Auch Erzieher und Lehrer gaben längst auf. Bianka flog aus drei Kindergärten und sieben Schulen. Nun ist das Mädchen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Rodewisch. Diagnose: Reaktive Bindungstörung.

Die schlanke Frau mit den glatten schwarzen Haaren muss eine Kämpfernatur sein. Wie eine Löwenmutter steht sie trotz all der Widrigkeiten für ihre Tochter ein. Leicht ist es nicht.

Wenn Manuela Richter an die Diagnose ihrer Tochter denkt, könnte sie heulen. Die Liste mit den angeblichen Gründen für eine „Reaktive Bindungsstörung“ würde sie am liebsten zerreißen. Disharmonie in der Familie, unzureichende Aufsicht sowie fehlende Wärme werden da genannt.

„Hallo, ich bin doch keine Rabenmutter“, sagt sie. „Warum versteht mich keiner?“

Manuela Richter mit einem
Foto, das sie beim Besuch
ihrer Tochter Bianka in der
Kinder- und Jugendpsychiatrie
in Rodewisch zeigt.
Manuela Richter mit einem Foto, das sie beim Besuch ihrer Tochter Bianka in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Rodewisch zeigt.  © Klaus Jedlicka

Ihr Kind habe sie gehegt und gepflegt, ihm Liebe und Nestwärme geschenkt, Ausflüge unternommen. „Die ersten Monate mit ihr waren so schön“, erinnert sie sich. Es begann, als Bianka ein Jahr alt war.

Als Baby ließ sie sich manchmal nicht windeln, machte die Beinchen steif. „Ich dachte an eine ausgeprägte Trotzphase“, erzählt sie. Das Kleinkind warf sich hin, riss sich die Haare aus, biss sich in die Arme oder schlug den Kopf gegen die Wand.

„Sie bekam schlimme Ausraster.“ Ob sie ihr Kind nicht erziehen könne? Die Reaktionen der Leute sieht man fast plastisch vor sich. Geburtstagsfeiern oder Stadtfeste mied die Mutter irgendwann.

Hohe Geräuschpegel oder Menschengruppen lösten die Wutanfälle aus. Selbst Kissenschlachten schlugen ins andere Extrem um. „Ich dachte, Bianka ist unterfordert.“

Also brachte Manuela Richter ihre Zweieinhalbjährige in den Kindergarten. Aber das Kind fügte sich nicht. Nach einem halben Jahr legten ihr die Erzieher eine integrative Einrichtung nahe. Doch erst in der heilpädagogischen Tagesstätte in Aue kam Bianka mit vier Jahren „ohne größere Eskalationen“ zur Ruhe.

„Nur“ die Gitarre des Erziehers musste dran glauben. Inzwischen richtete Bianka ihre Aggressionen auch auf Gegenstände und Personen.

Da war die Welt noch in Ordnung:
Mutter Manuela Richter
(38) und Vater Silvio Unger (†44)
mit ihrer Tochter Bianka - hier
etwa zwei Jahre alt.
Da war die Welt noch in Ordnung: Mutter Manuela Richter (38) und Vater Silvio Unger (†44) mit ihrer Tochter Bianka - hier etwa zwei Jahre alt.

Mit der Einschulung ging Biankas Odyssee weiter. Wände ließen sich tapezieren mit all den Grundschulen und therapeutischen Einrichtungen, die ihr bald den Zutritt verweigerten.

Weil sie den Schulvertrag zum Beispiel mit „Fuck you“ unterschrieb. Mal scheiterte Bianka am Lehrerwechsel. Dann war die Klassenstärke zu groß. Das Mädchen kratzte, schubste und schlug um sich. „Eigen- und Fremdgefährdung“ oder „grenzübergreifendes Verhalten“, so lauteten die Begründungen der Schulleiter. „Immer das Übliche.“ Die Anfeindungen, das Unverständnis und Kopfschütteln, Manuela Richter kennt es längst.

Auch in der Kleingartenanlage hatten die benachbarten Laubenpieper das ständige Getobe bald satt. „An Wochenenden ließen wir uns nicht mehr blicken.“ Im Urlaub war Manuela Richter mit Bianka seit zehn Jahren nicht mehr. Einkaufen geht sie nur noch früh am Morgen.

Die Wutanfälle dauern bis zu vier Stunden. 240 Minuten, in denen die Jugendliche kreischt, tobt, und zerstört. Ihre Brille ging mehrmals zu Bruch. „Inzwischen hat sie ordentlich Kraft.“ Wenn Bianka ausflippt, wählt Manuela Richter die „110“, das Jugendamt riet ihr dazu. Nerven aus Drahtseilen? Oder wie hält sie das aus?

Hundenarr Bianka
spielt mit ihrem tierischen
Freund im Garten
eines Nachbarn.
Hundenarr Bianka spielt mit ihrem tierischen Freund im Garten eines Nachbarn.

Manuela Richter weicht aus. Sie ist mit ihrem Latein am Ende, fühlt sich tieftraurig. Durchstarten, in ihrem Beruf als Schauwerbegestalterin arbeiten, darauf verzichtet sie seit Biankas Geburt. Sie lebt von Hartz-IV oder übt Ein-Euro-Jobs aus. Am ersten Tag als Näherin liefen die Tränen. Depressionen, sagte der Arzt zu der Frau, die dabei war, das Lachen zu verlernen. Weil sich immer mehr Freunde verabschiedeten. Doch ein paar blieben, die „aufdringlichen“, die darauf bestanden, dass sie unter Leute geht - und das Lachen nicht verlernt.

In einer schwachen Minute wollte Manuela Richter das Sorgerecht schon abgeben.

Das Jugendamt sah dafür jedoch keine Handhabe, zeigte stattdessen Verständnis. „Dafür bin ich so dankbar.“ Viel Unterstützung bekam die junge Mutter sonst nicht. Ihre Tochter sei nicht „schwer“, sondern „überhaupt nicht erziehbar“, musste sie sich zuletzt in einer Förderschule anhören. Mal wieder war Bianka aus der Bildungseinrichtung geflogen. „Lassen Sie sich was einfallen, schnellstmöglich!“, sagte die Lehrerin.

Hilfe kam von Biankas Vater. Silvio Unger (†44) nahm das Kind zu sich. In der Schweiz hatte sich der Sachse eine Existenz aufgebaut. Doch die Betreuung im Sonderschulinternat reichte nicht. Es kam, wie es Manuela Richter so oft erlebte. Bianka wurde ausgeschult.

Silvio Unger legte seine Arbeit nieder, um sich um sein Mädchen zu kümmern. Es eskalierte. Bianka wurde zwangseingewiesen. „Assi Vater“, sagte sie zu ihm, als er seine Tochter in der Psychiatrie besuchte. „Es tut mir leid, es ist schiefgegangen. Sag Bianka, dass ich sie lieb hab“, lautete seine letzte Textnachricht. Einen Tag später rief die Polizei bei Manuela Richter an. Silvio Unger wurde leblos aufgefunden.

Wie es nun weitergeht?

Manuela Richter weiß es nicht. Alle Wege, die sie ging, endeten im Desaster. Sie fühlt sich hingehalten, überfordert, zweifelt an der Diagnose. „Ich vermute eher Asperger Syndrom oder atypischen Autismus.“ Ein Test soll jetzt Klarheit bringen.

„Bianka kann ja nicht immer in der Psychiatrie bleiben...“

Titelfoto: Klaus Jedlicka