Fast gestorben! Seine Krankheit ist so selten, dass kaum ein Arzt sie kennt

Jörg Müller (56) leidet seit seiner Kindheit an dem seltenen Fiebersyndrom "Muckle-Wells".
Jörg Müller (56) leidet seit seiner Kindheit an dem seltenen Fiebersyndrom "Muckle-Wells".  © Steffen Füssel

Pirna - Jörg Müller* aus Pirna (56) sammelt Uhren. Weil Zeit, auch Lebenszeit, ihm wichtig ist. Denn mehr als einmal entkam er schon dem Sensenmann. Jahrelang pilgerte der EU-Rentner wegen Schmerzen und dauerndem Fieber von Arzt zu Arzt. Bis ihm in der Fachabteilung für Seltene Erkrankungen im Städtischen Klinikum Dresden - endlich - geholfen wurde.

Viel musste der tapfere Mann ertragen. Etliche Befunde stempelten ihm die Doktoren auf die Stirn. Von Multipler Sklerose über Morbus Wilson bis zu Leukämie. Unglaublich, sogar die Verlegenheitsdiagnose "psychosomatisch" blieb ihm nicht erspart. Jahrzehnte mit Morphium, Cortison, Antibiotika, und Botox gegen die Muskelkrämpfe.

Fieber, Atemnot und starke Schmerzen gehörten zum Alltag. "Wie glühender Draht, der die Knochen entlangfährt", beschreibt er seine Tortur. Als Jörg Müller nur noch mit Gehhilfen laufen und mit einem Beatmungsgerät Luft holen konnte, war der Tiefpunkt erreicht.

Mal wieder rief seine Ehefrau den Notdienst. Die Bereitschaftsärztin Dr. Grässler schaute genauer hin. Sie erkannte das autoimmune Geschehen und überwies Jörg Müller ins Friedrichstädter Krankenhaus. Dort wurde die seltene Erkrankung "Muckle-Wells" diagnostiziert.

Ein Beatmungsgerät steht auf Jörg Müllers Nachttisch. Er benutzt es zwölf 
Stunden pro Tag.
Ein Beatmungsgerät steht auf Jörg Müllers Nachttisch. Er benutzt es zwölf Stunden pro Tag.  © Steffen Füssel

In Deutschland ist Jörg Müller einer von 800. Eine Therapie gibt es inzwischen. "Die Spritze schlug an", ist Jörg Müller heute dankbar. Das verabreichte Mittel blockierte die Gene, die seine körpereigene Struktur angreifen. "Meine Rettung, sonst wäre ich an Organversagen gestorben."

Dabei war Jörg Müller als Junge eine Sportskanone. Er spielte Fußball, fuhr Ski und engagierte sich als Sanitäter. Doch da waren immer diese Fieberschübe. Wegen der erhöhten Körpertemperatur von über 40 Grad Celsius rief die Mutter oft die Gemeindeschwester.

Mit ihrem Spritzenköfferchen eilte sie etwa alle zehn Wochen herbei. "Meistens in den Ferien", erinnert er sich. Kurios, nach drei Tagen war der Spuk jedesmal vorbei. Mit 16 Jahren wurde dazu noch Asthma festgestellt.

Die zehnte Klasse bestand er mittelmäßig. "Weil ich nicht ganz politisch korrekt war", sagt er augenzwinkernd. Zum Beispiel wegen der West-Kaugummis, die er verteilte. Sein Humor ist wohl ein Grund, warum ihm seine spätere Ehefrau Heike nicht mehr von der Seite wich.

Dank der Diagnose und erfolgreichen Therapie fährt Jörg Müller inzwischen 
sogar wieder Auto.
Dank der Diagnose und erfolgreichen Therapie fährt Jörg Müller inzwischen sogar wieder Auto.  © Steffen Füssel

Mit 18 Jahren verliebten sie sich beim Zelten. Ein Jahr später stand der Hochzeitstermin fest. Da wäre sie fast abgesprungen. "Nach meiner ersten Kieferhöhlen-OP sah ich aus wie nach 'nem Boxkampf." Komplikationen traten auf. Der Blutsturz war erst mittels Druckverband zu stoppen. Mit einem Draht fixierten die Ärzte einen Tupfer von Innen, bevor sie die Nase tamponierten.

Seither wurde Jörg Müller siebenmal operiert. Einmal musste er reanimiert werden. "Da sah ich meine toten Verwandten rechts und links vom Glastunnel, bevor grelles Licht kam." Die Anästhesistin hatte ihn mit dem Defibrillator ins Leben zurückgeholt.

Plötzlich summt die Wanduhr. Jörg Müller besitzt zahlreiche Zeitmesser, Wecker, Chronometer. Zeit hat für ihn unterdessen eine besondere Bedeutung. Mindestens 13 weitere Jahre wünscht er sich. "Ich möchte noch goldene Hochzeit feiern."

*Name von der Redaktion geändert

Jörg Müller mit Zuckertüte bei der Einschulung. In der Freizeit spielte der 
aufgeweckte Knirps am liebsten Fußball.
Jörg Müller mit Zuckertüte bei der Einschulung. In der Freizeit spielte der aufgeweckte Knirps am liebsten Fußball.
Familienurlaub 1993 an der Nordsee: Jörg Müller mit seinem Sohn 
Sebastian.
Familienurlaub 1993 an der Nordsee: Jörg Müller mit seinem Sohn Sebastian.

Bei verzwickten Fällen übernehmen Spezialisten

Chefärztin Dr. Leonore Unger (57) wünscht sich eine Lobby für Patienten mit einer seltenen Erkrankung
Chefärztin Dr. Leonore Unger (57) wünscht sich eine Lobby für Patienten mit einer seltenen Erkrankung  © Thomas Türpe

Das Ärzte-Team vom Zentrum für Seltene Erkrankungen im Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt übernimmt die Fälle, bei denen die Kollegen nicht weiter wissen.

"Selten ist eine Krankheit, wenn einer von 2000 Menschen daran erkrankt", erklärt Chefärztin Dr. Leonore Unger. Mehr als 7000 seltene Erkrankungen kennt die Medizin bislang.

"Eine davon ist das Fiebersyndrom 'Muckle-Wells' von Jörg Müller", erzählt die behandelnde Ärztin. Unter ihrer Ägide konnte ihm geholfen werden. Sie diagnostizierte den Gendefekt, der sich symptomatisch wie eine Immunschwäche äußert. Obwohl ein Krankheitserreger fehlt, produziert der Körper Entzündungsreaktionen. Fieber gehört dazu. "Wer hin und wieder unter erhöhter Temperatur leidet, findet das nicht ungewöhnlich", sagt sie. Die "milden" seltenen Erkrankungen werden daher schwerer diagnostiziert.

Jörg Müller hatte Glück. Für die Behandlung von Muckle-Wells gibt es seit 2005 sogar ein zugelassenes Medikament. Die jährliche Therapie mit Canakinumab kostet allerdings 162.000 Euro. Die Krankenkasse zahlt. Das ist leider nicht immer der Fall. "Hier sind die Ärzte im Zwiespalt", sagt Dr. Unger. Wenn ein möglicherweise hilfreiches Medikament für eine bestimmte Krankheit nicht zugelassen ist, müssen die Kassen nicht zahlen.

Schwere Komplikationen wie Nierenversagen oder Unfruchtbarkeit werden oft hingenommen. "Patienten mit seltenen Erkrankungen brauchen endlich eine starke Lobby."