Neues Triage-Gesetz stößt auf Widerstand

Offenbach/Frankfurt/Berlin - Ein Bundesgesetz zur sogenannten Triage stößt bei Medizinern in Hessen auf Kritik.

Wem soll geholfen werden, wenn die medizinischen Ressourcen nicht mehr ausreichen? Diese Frage wurde während der Corona-Pandemie ganz aktuell.
Wem soll geholfen werden, wenn die medizinischen Ressourcen nicht mehr ausreichen? Diese Frage wurde während der Corona-Pandemie ganz aktuell.  © Fabian Strauch/dpa

"Ich halte das Gesetz für völlig überflüssig", sagte Stephan Sahm (63), Medizinethiker und Chefarzt am Offenbacher Ketteler-Krankenhaus, der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Auch die Landesärztekammer reagierte mit "Unverständnis" und hofft auf Nachbesserung des Gesetzes.

Worum geht es? Der Bundestag hatte in der vergangenen Woche Regeln für die sogenannte Triage - also die Priorisierung von medizinischer Hilfeleistung bei nicht ausreichenden Ressourcen - während einer Pandemie erlassen.

Entschieden werden soll dem Gesetz zufolge im Fall knapper Kapazitäten auf Intensivstationen maßgeblich nach der "aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit" eines Patienten. Andere Kriterien wie das Alter oder eine Behinderung dürfen keine Rolle spielen.

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Das Gesetz muss noch durch den Bundesrat. Es ist aber nicht zustimmungspflichtig. Anlass war eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Dezember 2021. Geklagt hatten Behindertenverbände.

Medizinethiker Sahm: "Jede medizinische Behandlung muss immer auf ihre Erfolgsaussichten geprüft werden"

Stephan Sahm (63), Medizinethiker und Chefarzt am Offenbacher Ketteler-Krankenhaus, hält das neue Triage-Gesetz für überflüssig.
Stephan Sahm (63), Medizinethiker und Chefarzt am Offenbacher Ketteler-Krankenhaus, hält das neue Triage-Gesetz für überflüssig.  © Helmut Fricke/dpa

Das Gericht entschied damals, dass der Staat die Pflicht hat, Menschen vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung zu schützen.

Auf Intensivstationen müssten auch außerhalb von Pandemien immer wieder "schmerzliche aber nötige" Entscheidungen getroffen werden, sagte Sahm - etwa wenn alle Plätze belegt sind und ein neuer Patient dazukommt, oder wenn Stationen wegen Personalmangel gesperrt werden müssten.

"Die Ärzteschaft geht seit jeher verantwortungsvoll damit um, ohne dass der Verdacht bestünde, dass dabei bestimmte Personengruppen benachteiligt werden. Es ist mir ein Rätsel, wieso das in einer Pandemie nicht auch funktionieren sollte", erläuterte Sahm.

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"Jede medizinische Behandlung muss immer wieder auf ihre Erfolgsaussichten geprüft werden", sagte er. Wenn die Chancen zu überleben anfangs gut waren, sich danach aber "marginalisiert" haben, müsse man die Behandlung beenden.

Leitkriterium müsse dabei laut Sahm sein: Wie groß sind die Chancen, dass dieser Mensch die Klinik jemals aufrecht verlässt? "Wenn es um Zuteilungen medizinischer Ressourcen geht, sind alle Patienten gleich."

Bisher war die Triage durch Empfehlungen geregelt: Drohen Ärzten jetzt strafrechtliche Folgen?

Locarno im März 2020: Ein Zelt zur Aufnahme und Einteilung von Patienten mit Corona-Symptomen steht im Eingangsbereich der Notaufnahme eines Krankenhauses.
Locarno im März 2020: Ein Zelt zur Aufnahme und Einteilung von Patienten mit Corona-Symptomen steht im Eingangsbereich der Notaufnahme eines Krankenhauses.  © Samuel Golay/KEYSTONE/Ti-Press/dpa

Bisher war die sogenannte Triage nicht durch Gesetze, sondern nur durch Empfehlungen geregelt. Nun droht nach Ansicht der Landesärztekammer eine "Überreglementierung".

Das Gesetz erscheine "in Situationen, in denen schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, kaum umsetzbar", sagte Präsident Edgar Pinkowski (66). Unter Umständen müssten bis zu drei Ärzte für die Entscheidung hinzugezogen werden. "Die Sorge vor möglichen strafrechtlichen Folgen wird die ärztliche Entscheidung zusätzlich erschweren."

Sahm sieht diese Gefahr weniger. Wenn zum Beispiel eine 70 Jahre alte Frau mit schlechter Prognose zugunsten einer 17-Jährigen mit guter Prognose von lebenserhaltenden Maschinen getrennt wird, dann sei das formal vielleicht Totschlag. Aber die Chancen, dass der Arzt im Falle eines Prozesses freigesprochen werde, hält er für sehr hoch.

Generell sei er "optimistisch", dass das Gesetz "nicht viel Schaden anrichtet: Wir werden das weiter gut machen, da bin ich mir sicher."

Titelfoto: Fabian Strauch/dpa

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