Mann beschwert sich über Kirchenglocken, Justiz will ihn für "verrückt erklären"

Hamburg - Steht die Hamburger Justiz kurz vor dem nächsten Skandal? Mit ungewöhnlichen Mitteln wird seit Monaten versucht, einen Mann kaltzustellen.

Der St. Marien-Dom ist der erste katholische Kirchenneubau in Hamburg nach der Reformation und wurde 1893 fertiggestellt.
Der St. Marien-Dom ist der erste katholische Kirchenneubau in Hamburg nach der Reformation und wurde 1893 fertiggestellt.  © Oliver Wunder/TAG24

"Die Staatsanwaltschaft und ein Richter versuchen, mir, einem geistig gesunden Bürger, eine Unzurechnungsfähigkeit anzudichten", sagt Martin F. (57) zu TAG24. "Mein Vertrauen in den Rechtsstaat ist massiv erschüttert."

Der Hamburger sieht in seinem Fall große Parallelen zu Gustl Mollath (67), der in dem größten Justiz-Skandal der jüngeren Vergangenheit zu Unrecht sieben Jahre in die Psychiatrie gesperrt wurde. Dieses Schicksal als schlimmsten Ausgang seines Falls hat F. stets vor Augen.

Es begann damit, dass er sich über Lärm der Kirche beschwert hatte. F. wohnt in direkter Nachbarschaft zur Domkirche St. Marien im Stadtteil St. Georg und hat einen Tinnitus. Über das Glockenläuten haben sich auch andere Anwohner beschwert.

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Wegen Ruhestörung erstattete der 57-Jährige Anzeige gegen die katholische Kirche. Beide Parteien einigten sich schließlich im vergangenen Jahr außergerichtlich. So weit, so normal.

Staatsanwältin mit fragwürdigem Wortverständnis

Martin F. (57) hat sich an TAG24 gewendet. Sein Vertrauen in den Rechtsstaat ist schwer erschüttert.
Martin F. (57) hat sich an TAG24 gewendet. Sein Vertrauen in den Rechtsstaat ist schwer erschüttert.  © Oliver Wunder/TAG24

Doch am 13. März 2021 wurde gegen 3 Uhr ein öffentliches Bücherregal vor dem Verwaltungsgebäude des Erzbistums angezündet. Wenige Tage später folgten zwei identische Drohbriefe an die Kirche, diese und andere Dokumente in diesem Fall liegen TAG24 vor. Sollte die Lärmbelästigung weitergehen, werde der Dom angezündet, hieß es in den Schreiben. Bis heute wurde kein Täter verurteilt.

Als Martin F. sich Ende November 2021 erneut über Lärm beschwerte und sich einer Polizistin gegenüber abfällig über die Kirche äußerte, geriet er ins Visier der Ermittler.

Die Beamtin schrieb das Gehörte auf und bezeichnete die Aussagen als "sinngemäß". Eine Staatsanwältin machte daraus eine "identische" - laut Duden völlig übereinstimmende - Wortwahl mit den Drohbriefen. Ein fragwürdiges Wortverständnis.

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Fast ein Jahr nach der Brandstiftung, am 18. Februar 2022, stand die Polizei daher vor der Tür des Hamburgers. Bei der Wohnungsdurchsuchung nahmen die Beamten seinen Computer mit.

Nach Auswertung der Festplatte war sich die Staatsanwaltschaft mit ihrem Verdacht so sicher, dass sie den 57-Jährigen im März 2023 wegen der Brandstiftung und der Drohbriefe anklagte. Das Schreiben fanden die Ermittler dort übrigens nicht, sondern einen Brief wegen des Lärms an die Polizei und eine Sammlung von Punkten für einen anstehenden Rechtsstreit mit der Kirche. Auch den Drucker, auf dem es ausgedruckt wurde, wurde bei der Durchsuchung nicht gefunden.

Antrag auf Betreuung gestellt

Ob es zum Prozess kommt, ist unklar. (Symbolbild)
Ob es zum Prozess kommt, ist unklar. (Symbolbild)  © Marcus Brandt/Pool-dpa/dpa

F. stritt die Vorwürfe per Anwalt ab, mit beiden Vorwürfen habe er nichts zu tun. Außerdem nahm sein Jurist die Anklage auseinander, sah darin keinen Beweis für einen Tatverdacht gegen seinen Mandanten. Bis heute wurde das Gerichtsverfahren nicht eröffnet.

Dafür stellte die ermittelnde Staatsanwältin einen Antrag auf Betreuung beim Amtsgericht Hamburg-St.-Georg. Das geschah nur zwei Tage nach Verfassen der Anklageschrift und bevor F. per Anwalt auf die Vorwürfe reagierte.

Was verstehen die Juristen unter dem Begriff Betreuung? "Kann eine Person ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nicht selbst erledigen, kann ein Betreuer bestellt werden", so die Hamburger Justizbehörde.

Meist beginnt so ein Verfahren auf Wunsch von Betroffenen oder Angehörigen - aber auch nach Hinweisen einer Behörde. Im Fall von F. scheint es ohne ersichtlichen Grund angestoßen worden zu sein.

Eine Mitarbeiterin des Fachamtes für Hilfen nach dem Betreuungsgesetz sprach im Mai mit ihm. Ihre Einschätzung: Es gebe "keine Anhaltspunkte dafür, dass er in seiner freien Willensbildung eingeschränkt ist". Die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung werde als "nicht erforderlich" erachtet.

Gericht schaltet Psychiater ein

Ein Psychiater kam für sein Gutachten zu Martin F. nach Hause. (Symbolbild)
Ein Psychiater kam für sein Gutachten zu Martin F. nach Hause. (Symbolbild)  © peopleimages12/123RF

Doch der belastende Spießrutenlauf hatte damit kein Ende. Denn das Amtsgericht gab sich mit der Antwort nicht zufrieden. Der Richter beschloss, ein psychiatrisches Gutachten zu beauftragen. Das Ergebnis liegt F. seit wenigen Tagen vor. Ihm wird bescheinigt, geistig, seelisch und körperlich gesund zu sein. Aus ärztlicher Sicht seien die Voraussetzungen für eine Betreuung nicht erfüllt.

Warum wurde das Verfahren eingeleitet? Und wieso wurde es nach der ersten ablehnenden Beurteilung weiterverfolgt? Das wollte TAG24 von Staatsanwaltschaft und Gericht wissen. Beide lehnten Antworten mit Verweis auf das laufende Verfahren ab.

Der 57-Jährige ist wegen der Sache sichtlich verunsichert, spricht von Willkür der Justiz und fragt sich, was dahintersteckt. "Soll ich mundtot gemacht werden? Hat gar die Kirche ihre Finger im Spiel?" Statt sich den Täter zu schnappen, werde gegen ihn als Opfer des Lärms ermittelt.

Fast wäre er "für verrückt erklärt worden", meint F. "Es ist erstaunlich, wie einfach es in Hamburg möglich ist, so ein 'Psychoterror-Verfahren' in Gang zu setzen, das theoretisch jeden treffen könnte, der sich öffentlich kontrovers engagiert." Noch ist die Sache für ihn nicht ausgestanden. Ob und wann der Gerichtsprozess beginnt, ist unklar.

Titelfoto: Montage: Oliver Wunder/TAG24 (2)

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