Energie-Expertin: "Deutschland ist zu früh aus der Kernenergie ausgestiegen"

Dresden - Der Klimawandel ist nicht mehr wegzudiskutieren, so gut wie jede Partei gibt sich einen "Öko-Anstrich". Unterm Strich hat Kohle aber als Energieträger für die Stromproduktion die Windkraft wieder vom ersten Platz in Deutschland verdrängt - zumindest im ersten Halbjahr 2021. Da stellt sich die Frage, was da schiefläuft? TAG24 sprach mit der Energie-Expertin Dr. Anna Veronika Wendland vom Herder-Institut.

Energie-Expertin Dr. Anna Veronika Wendland vom Herder-Institut.
Energie-Expertin Dr. Anna Veronika Wendland vom Herder-Institut.  © PR

TAG24: Ist Deutschland zu früh aus der Kernenergie ausgestiegen?

Dr. Anna Veronika Wendland: Ja, Deutschland ist zu früh aus der Kernenergie ausgestiegen. Es hat im Grunde die Ausstiegsreihenfolge falsch herum aufgezogen. Unter einem Klimaschutzgesichtspunkt hätte man eigentlich erst aus der Kohlekraft aussteigen müssen und dann aus der Kernenergie. Aber es ist anders gelaufen und deshalb laufen wir jetzt in gewaltige Schwierigkeiten, unsere Klimaziele zu erreichen.

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TAG24: Auf den ersten Blick sagen ja viele Menschen: "Gott sei Dank sind wir von der Kernenergie weg!" Ist die denn aber wirklich so gefährlich, wie man immer denkt?

Wendland: Bei der Kernenergie unterscheidet sich die Risikowahrnehmung vieler Bürgerinnen und Bürger von der Evidenz, also dem, was man wissenschaftlich über die Risiken und Nebenwirkungen feststellen kann. Das ist nämlich erstaunlicherweise gar nicht so krass, wie die meisten Menschen annehmen, die denken, Kernenergie ist das Monstrum an Gefährlichkeit. Wenn man sich einfach anguckt, wie schaut das aus, inklusive der Atomunfälle und ihrer Folgen, mit den Folgen von Kernenergienutzung im Normalbetrieb oder auch mit den Risiken des Atommülls, so wie er eben jetzt dasteht in den Zwischenlagern, kann man konstatieren: Im Vergleich zu den fossilen Kraftwerken rangiert die Kernenergie ganz weit hinten, zusammen mit den erneuerbaren Energien. Das ist das, was die Empirie uns sagt - die Risikowahrnehmung sagt uns natürlich was ganz anderes. Bei dem, was die Menschen empfinden, gibt es Aussagen, dass die Kernenergie wesentlich gefährlicher sei als die Kohle. Genau aus diesem Grunde wurde jahrelang die Kohle als kleineres Übel dargestellt und eigentlich alle haben mit vereinten Kräften gegen die Kernenergie gekämpft. Sowohl wenn man die Opfer der Luftverschmutzung betrachtet, als auch den Beitrag der Kohleverstromung zur Erderwärmung, dann stellt sich heraus: Das wirkliche Problem war eigentlich die Fossilverbrennung. Die Kernenergie war eigentlich ein minderwichtiges Problem.

TAG24: Ist es nicht auch ein bisschen ironisch, wenn wir in Deutschland die Kernkraftwerke abschaffen und drei Meter hinter der Grenze bauen die Belgier, Franzosen und Tschechen neue? Wenn da was passiert, trifft es uns doch eh…

Ziel des Ausbaus der erneuerbaren Energien hat laut Wendland nachgelassen

Gerade erst festgestellt: Windkraft ist in Deutschland auf Platz 2 verdrängt worden. (Symbolbild)
Gerade erst festgestellt: Windkraft ist in Deutschland auf Platz 2 verdrängt worden. (Symbolbild)  © Tom Weller/dpa

Wendland: Nicht alle bauen. Die Belgier wollen auch aussteigen und was da passiert, ist ja symptomatisch. Dort ist geplant, die Kernkraftkapazitäten durch Erdgas zu ersetzen und genau das ist das, was uns auch erwartet. Wir sehen momentan eine Situation, dass Deutschland seine Energiewende in einer Hinsicht wirklich sehr konsequent und erfolgreich durchgeführt hat: beim Aspekt Atomausstieg. Das ist brachial durchgezogen worden. Das zweite Ziel, die Erneuerbaren Energien auszubauen, ist man zunächst auch sehr ehrgeizig angegangen, dann hat das aber in den letzten Jahren sehr nachgelassen. Wenn wir uns zum Beispiel den Windkraft-Ausbau anschauen oder die Hindernisse beim Fotovoltaik-Ausbau, dann sieht man: Das einzige, was richtig konsequent gemacht worden ist, ist der Kernenergieausstieg - zum Schaden unserer Klimaziele Was man aber jahrzehntelang vernachlässigt hat, ist, das wir zum Beispiel fast gar keine Stromspeichertechnologie haben. Man hat zwar im Jahr 2000 ein Erneuerbare-Energien-Gesetz aufgelegt, aber vergessen, dass man Stromspeicher braucht, wenn man die Stromversorgung ausgerechnet auf jene beiden Erzeuger umstellen will, die tageszeit-, jahreszeit- und wetterabhängig produzieren, Sonne und Wind nämlich. Das wurde jahrzehntelang verpennt und stellt uns ein großes Problem.

TAG24: Inwiefern?

Wendland: Wenn wir keine Speicher haben, braucht es ein Backup und das resultiert dann eben in einer Verzögerung des Kohleausstieges oder in der Nutzung von Erdgas - beides ist klimaschädlich. Was man eigentlich machen müsste, wäre möglichst schnell raus aus der Kohle, Erdgasverbrennung ebenfalls reduzieren. Doch das geht eben nicht, weil man sich, auch durch den Atomausstieg, selbst in diese Falle hineingetrieben hat.

Leitungsausbau der Stromnetze vonnöten

Beim Stromleitungsausbau hinkt Deutschland laut Wendland hinterher. (Symbolbild)
Beim Stromleitungsausbau hinkt Deutschland laut Wendland hinterher. (Symbolbild)  © Wolfgang Runge/dpa

TAG24: Ist unser Stromnetz eigentlich dafür gerüstet, massiv Energie von Sonne und Wind einzuspeisen?

Wendland: Im Grund haben wir in Deutschland ein exzellent aufgestelltes Stromnetz. Das sieht man auch am weltweiten Vergleich der Ausfallraten. Das Problem ist, dass wir durch diese Ausbauplanungen bei den erneuerbaren Energien regionale Ungleichgewichte haben und die müssen teilweise durch Netztechnik ausgeglichen werden, sprich vor allem beim Leitungsbau hinken wir hinterher. Dasselbe gilt im gewissen Maße für das gesamte europäische Verbundnetz. Das, was da viele Länder vorhaben, also dieser Systemwechsel Richtung Erneuerbare Energien, das muss auch durch einen entsprechenden Leitungsausbau, digitale Netzleittechnik und ganz viele Infrastrukturvorhaben abgedeckt werden. Die hinken aber nach und dadurch kommen wir streckenweise in Versorgungsprobleme oder Ungleichgewichte. Das kann passieren, ich würde es jetzt aber nicht dauernd als Teufel an die Wand malen.

Deutscher Atomausstieg überrumpelte viele Länder

Bundeskanzlerin Angela Merkel (67, CDU) überrumpelte viele mit ihrem abrupten Atomausstieg.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (67, CDU) überrumpelte viele mit ihrem abrupten Atomausstieg.  © Franc Zhurda/AP/dpa

TAG24: Und wer ist für diese Ungleichgewichte verantwortlich?

Wendland: Das ist ganz eindeutig einer unkoordinierten Politik geschuldet. Deutschland hat seine europäischen Nachbarn natürlich nicht gefragt, als es sich für die Energiewende und den abrupten Atomausstieg entschieden hat. Deswegen kann es im Endeffekt passieren, dass wir bei Engpässen automatisch Kohle- oder Atomstrom über das Verbundnetz von den Nachbarn importieren. Genauso allerdings, wie die von uns Windstrom importieren, wenn wir Windstromüberschüsse haben, denn das ist ja keine Einbahnstraße. Die Schizophrenie dieser deutschen Energiewende ist aber, dass der Atomausstieg als eine moralische und ethische Entscheidung verkauft wird, während man durch die Hintertür wieder Atomstrom importiert und sich eine Art verlängerte Atomwerkbank zulegt. Wenn man überlegt, dass Frankreich täglich Atomstrom von ein bis drei Reaktorblockleistungen nach Deutschland exportiert, dann ist die deutsche Atomausstiegs-Ethik natürlich eine ziemliche Heuchelei. Eigentlich dürfte konsequenterweise dann auch kein Atomstrom importiert werden. Genau das geht aber nicht, weil man in Süddeutschland bei der Stromversorgung sonst schon ziemlich blank wäre. Da stellt sich wirklich die Frage, warum machen wir das dann nicht gleich selber, wir haben ja noch 6 Kernkraftwerke am Netz.

Bürgerproteste gegen Windräder bremsen die Energiewende aus

Immer wieder wehren sich Anwohner in Deutschland gegen den Bau neuer Windräder. (Symbolbild)
Immer wieder wehren sich Anwohner in Deutschland gegen den Bau neuer Windräder. (Symbolbild)  © Moritz Frankenberg/dpa

TAG24: Warum kommt man mit dem Stromtrassen-Ausbau eigentlich nicht voran? Ist unser Land an dieser Stelle zu demokratisch in seiner Entscheidungsfindung? Ganz ketzerisch gefragt: Müsste hier nicht manchmal auch über Einzelne hinweg entscheiden?

Wendland: Wir haben in Deutschland natürlich wirklich ein Planungs- und Genehmigungswesen, das sehr, sehr langwierig und sehr verbürokratisiert ist. Das hilft natürlich nicht bei solchen Infrastrukturvorhaben. Andere Beispiele wären auch Bahnhöfe oder Flughäfen. Bei den Stromtrassen haben wir natürlich auch diese Bürgerbewegungen an der Basis, die sich gegen einzelne Abschnitte zur Wehr setzen oder die ein Erdkabel haben wollen, das vor allem Kostenprobleme aufwirft. Natürlich müssen all diese widerstreitenden Interessen in einer Demokratie integriert werden und man kann sie auch nicht einfach abbügeln! Nach einer jahrzehntelangen Erfahrung mit einem ziemlich erfolgreichen Protest gegen die Atomkraft kann man jetzt natürlich nicht hingehen und sagen, Bürgerprotest gegen Stromtrassen oder Windkraftanlagen sei verwerflich. Protest ist in einer Demokratie erlaubt und mit dem muss man sich eben auseinandersetzen. Genau das ist aber ein ernstzunehmender Faktor, wenn man diese extrem ehrgeizigen Ausbauziele betrachtet, die zum Beispiel jetzt die Grünen im Wahlkampf vorschlagen. Da müssen wir damit rechnen, dass die so in ihrer Idealform nicht durchführbar sind. Bürokratische Hemmnisse können vielleicht ausgeräumt werden, die Widerstände sind aber nicht kalkulierbar. Kurzum: Wir müssen schlicht damit rechnen, dass das mit dem Ausbau vielleicht nicht so schnell vorangeht, wie wir das wollen.

Wendland über die Klimaziele der Parteien

Hat Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (40, Grüne) wirklich das beste Konzept gegen den Klimawandel?
Hat Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (40, Grüne) wirklich das beste Konzept gegen den Klimawandel?  © Fabian Strauch/dpa

TAG24: Wo Sie gerade die Grünen angesprochen haben: Gibt es aus Ihrer Sicht eigentlich eine Partei, die realistische Klimaziele in ihrem Wahlprogramm hat?

Wendland: Na ja, das kommt darauf an, was man genau zugrunde legt. Wenn man die Erreichung eines ehrgeizigen Klimazieles nimmt und wenn man auch noch betrachtet, dass uns das Bundesverfassungsgericht im April mit seinem Klimaurteil im Grunde auf den Tisch geknallt hat, dass wir vor 2030 noch mehr CO2-Emissionen verhindern müssen, als das eigentlich geplant war, dann wären tatsächlich die Pläne der Grünen am besten geeignet, das Ziel zu erreichen. Auf der anderen Seite sind die Grünen, was ihr Verständnis für die Erfordernisse eines Stromnetzes angeht, relativ realitätsfern. Sie behaupten, wir müssen jetzt nur noch in Wind und Sonne gehen, sagen aber konkret eigentlich nicht, was passiert, wenn wir tagelange Flautelagen haben. Als kleine Erinnerung: Allein durch den Ausbau von Windkraft und Fotovoltaik ist immer noch nicht das Speicherproblem oder die in diesem Sommer massenhaft aufgetretenen Tage einer Unterproduktion erneuerbarer Energien gelöst.

Wendland über die Preisexplosion beim Erdgas

Die Erdgaspreise steigen. Gegner von Nord Stream 2 bekommen damit ein weiteres Argument gegen die Pipeline.
Die Erdgaspreise steigen. Gegner von Nord Stream 2 bekommen damit ein weiteres Argument gegen die Pipeline.  © Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa

TAG24: Wo kommt dann aber der Strom her?

Wendland: Atom will man nicht, Kohle will man nicht, erneuerbare Energien will man, nur volatile wie Sonne und Wind, durch die wir Meinung nach direkt in diese Gazprom-Falle laufen. Es wird resultieren in einem Erdgas-Boom und das wirft dann wieder Fragen bezüglich der CO2- und Methan-Emission auf. Zudem ist es eine Kostenfrage. Wir erleben nämlich gerade eine Preisexplosion beim Erdgas, die ja auch irgendwie bezahlt werden muss. Die Erneuerbaren-Industrie hat eine andere Idee ins Spiel gebracht, die wollen einfach nur gigantische Überkapazitäten bauen und dann halt abregeln, wenn zu viel Wind weht. Das ist aus einer kurzsichtigen betriebswirtschaftlichen Sicht klar billiger, als die derzeit noch sehr teuren Speicher zu finanzieren. Aber mit Nachhaltigkeit hat auch das nichts mehr zu tun angesichts des gewaltigen Material-Mehrbedarfs. Man darf ja auch nicht vergessen, dass alle Studien sich einig sind, dass wir in Zukunft einen viel höheren Stromverbrauch haben werden – alle fossilen Energieträger sollen ja durch Strom ersetzt werden. Wenn man also all die Pläne auf ihre Realisierungsfähigkeit abklopft, dann kommen da natürlich auch an grünen Programmen Zweifel auf.

TAG24: Welches Programm finden Sie denn persönlich am besten?

Wendland: (Schmunzelt) Das einer ganz kleinen Partei, der Humanisten. Die sagen nämlich: „Lügt Euch nicht in die Tasche Leute, um diese ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen, braucht es einfach alle Technologien, die wir hier im Land haben.“ Also inklusive der Kernenergie - eine ketzerische Auffassung, aber in sich konsequent und wissenschaftsbasiert. Für mich ist das realistischer als das Programm der Grünen.

Kann man Wasserstoff in der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 transportieren?

Hubert Aiwanger (50, FREIE WÄHLER) würde Nord Stream 2 anders nutzen wollen als geplant.
Hubert Aiwanger (50, FREIE WÄHLER) würde Nord Stream 2 anders nutzen wollen als geplant.  © Eric Münch

TAG24: Mit den Freien Wählern und ihrem Chef Hubert Aiwanger hat eine andere kleine Partei gegenüber TAG24 vorgeschlagen, Wasserstoff in der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 nach Deutschland zu transportieren. Ist das realistisch?

Wendland: Das ist alles noch Zukunftsmusik mit dieser Wasserstoffwirtschaft, weil man da natürlich auch genau gucken muss, wie hoch da der Anteil des Wasserstoffes in diesem Leitungssystem ist. Da gibt es technische Begrenzungen, reiner Wasserstoff kann nicht einfach durch unser Gasleitungssystem gepumpt werden. Hubert Aiwanger ist aber wieder so ein typisches Beispiel deutscher Doppelzüngigkeit, denn dreimal dürfen Sie raten, wie die Russen diesen Wasserstoff herstellen wollen… Ganz bestimmt nicht aus Wind- oder Solarenergie!

TAG24: Sondern?

Wendland: Die Russen kündigen jetzt schon an, für die Herstellung von Wasserstoff Kernenergie zu nutzen. Das ist auch sehr klug, denn man kann Kernenergie super für die Wasserstoff-Produktion neben der normalen Stromversorgung einsetzen. Wenn jetzt also der Herr Aiwanger, der ein dezidierter Atomgegner ist, hingeht und die russische Wasserstoffwirtschaft als Lösung für Deutschland beschwört, dann ist das Heuchelei. Das ist wieder diese typische deutsche Aushängeschild-Energiewende. Wenn die Russen das so machen, dann kann auch das Kernkraftwerk Isar-2 vor Herrn Aiwangers Haustür das machen.

Wendland über den Niedergang der deutschen Solarenergie

Dächer mit Solarpaneelen sind in Deutschland immer häufiger zu sehen. (Symbolbild)
Dächer mit Solarpaneelen sind in Deutschland immer häufiger zu sehen. (Symbolbild)  © Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

TAG24: Warum sind wir Deutschen eigentlich so heuchlerisch?

Wendland: Diese ganze Energiewende-Geschichte ist so eine ganz sonderbare Kombination aus ehrlich gemeinter Aufbruchspolitik und Standortpolitik. Die offizielle Botschaft ist: wenn Deutschland als Top-Industrieland den Systemwechsel schafft, dann ist es Vorbild für andere und rettet den Planeten. Davon würde dann auch der Standort profitieren, durch Technologieführerschaft. Das hat übrigens beim Pushen der Solarenergie zuerst wirklich so gewirkt. Im Grunde hat die deutsche Bevölkerung den weltweiten Durchbruch dieser Technologie wesentlich mitfinanziert. Aber dann haben die subventionsverwöhnten deutschen Hersteller geschlafen, als die asiatische Konkurrenz groß wurde. Wenn man sich zudem anguckt, wie Deutschland real aussieht, also immer noch mit einem sehr hohen Braunkohleanteil und mit einem Atomausstieg, der mit Blick auf das Klimaziel nicht mehr vermittelbar ist, dann ist Deutschland einfach kein Vorbild und das sehen die Nachbarn natürlich auch so. Das östliche Europa schaut mit völligem Unverständnis auf den deutschen Atomausstieg. Die Polen wollen in die Kernenergie einsteigen, die Tschechen sind drin und sagen zu Recht, dass sie keine so großen Windkraftperspektiven hätten wie vielleicht die Niederlande oder Deutschland. Die Niederlande erwägen übrigens auch, zurück zur Kernenergie zu gehen und die Franzosen wollen ohnehin drin bleiben. Auf EU-Ebene gibt es momentan harte Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Österreichern auf der einen Seite und den pronuklearen EU-Mitgliedern auf der anderen.

TAG24: Über welche Frage?

Wendland: Da geht es um die Frage, ob Kernenergie in einer klimagerechten EU-Förderpolitik auch als nachhaltige Energie, d. h. als förderungswürdig angesehen werden darf. Deutschland macht bei diesem Hauen und Stechen gar keine so gute Figur, weil es oft viel zu aktiv gegen Technologien eintritt, die zum Beispiel der Weltklimarat ganz eindeutig als Klimaschutztechnologien ausweist – neben der Kernkraft auch die CO2-Abscheidung und –Speicherung.

Was wird aus den Arbeitsplätzen?

Aktivistinnen von Fridays for Future protestieren während der Rede von Annalena Baerbock (hinten) bei deren Wahlkampfauftritt auf dem Münsterplatz.
Aktivistinnen von Fridays for Future protestieren während der Rede von Annalena Baerbock (hinten) bei deren Wahlkampfauftritt auf dem Münsterplatz.  © Roberto Pfeil/dpa

TAG24: Was machen wir eigentlich mit den Menschen, die bei dem Wechsel auf neue Energien auf der Strecke bleiben? Kohle in der Lausitz oder im Leipziger Raum… Da gehen ja unzählige Arbeitsplätze verloren.

Wendland: Die Arbeitsplätze sind ja auch einer der Gründe für diesen ganz schleichenden Kohleausstieg, den wir jetzt haben. Wenn man rein von den Kapazitäten der Kohlekraftwerke rechnet, könnte man wahrscheinlich früher aus der Kohle rausgehen, als das aktuell der Fall ist. Das heißt, dieser Strukturwandel, der nicht schnell geht, ist natürlich ein ganz gewichtiges Moment. Tatsächlich ist das eine historische Hypothek der Deutschen. Die Klimakrise und die Klimaentwicklung ist kein Befund von heute oder von gestern, das ist im Grunde seit den 1980ern in Diskussion. Hätte man damals schon konsequent diese Fragen nach der Braunkohleverstromung und ihrer Zukunftsfähigkeit gestellt, dann hätten wir jetzt nicht diesen Schlamassel mit diesem relativ schnellen, auch unter öffentlichen Druck zustande gekommenen Ausstieg. Man hätte das ganz langsam und organisch angehen können und natürlich hätte man auch da über die Kernenergie reden müssen. Damals und heute erst recht. Wir reden also von historischen Hypotheken, die wir jetzt möglichst schnell loswerden wollen, weil plötzlich jetzt auch in der Breite diese Botschaft erst richtig ankommt, dass wir in einer Klimakrise sind.

TAG24: Und die Kohlearbeiter sind sozusagen die Leidtragenden des Ganzen…

Wendland: Genau. Jahrelang haben die auf das gehofft, was ihnen die Politik erzählt hat. Nämlich, dass die saubere deutsche Kohle eine Alternative zur Kernenergie sei. Das haben im übrigen auch die Grünen als kleineres Übel immer akzeptiert und selbst die Anti-AKW-Bewegung hatte da ihre Finger drin. Auch die haben die Schädlichkeit der Kohleverbrennung jahrzehntelang überhaupt nicht thematisiert… Noch 2011 nach dem Atomausstieg haben die Kohlekumpel gedacht, sie trifft das niemals. Da gab es auch nicht viel Solidarität für die Kernkraftwerker, sondern man hat sich gedacht: "Na ja, das ist ja eigentlich eine Lebensversicherung für uns." Dann kamen Fridays For Future und die Klimadebatte auf, im Grunde ja erst seit 2, 3 Jahren, und es ging auch der Kohle an den Kragen. Man kann also konstatieren: Ja, Leute, da habt Ihr Euch zu lange in Sicherheit gewogen, denn die Anforderungen sind unter einer Klimakrise jetzt andere.

Titelfoto: Bildmontage: Tom Weller/dpa/PR

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