Im Superwahljahr regiert in Sachsen die Angst - welche Sorgen uns besonders beschäftigen

Dresden - Seit 2016 befragt die sächsische Landesregierung Bürger für den sogenannten Sachsen-Monitor. Der aktuelle Bericht, der kürzlich vorgestellt wurde, offenbart Unzufriedenheit und tiefes Misstrauen in Bundesregierung, Parteien, Institutionen und Medien.

Überall zeigen sich Sorgen und Ängste der Menschen. (Symbolbild)
Überall zeigen sich Sorgen und Ängste der Menschen. (Symbolbild)  © 123RF

Die Stimmung hätte zu Beginn des Superwahljahres 2024 kaum mieser sein können! Was mindestens ebenso bedenklich ist: Überall zeigen sich Sorgen und regelrechte Ängste.

Lest hier, welche das sind und was ein Politik-Psychologe dazu sagt.

Gesellschaft

Sachsen braucht Arbeitskräfte aus dem Ausland, um die Frauen und Männer zu ersetzen, die in den kommenden Jahren in Rente gehen.
Sachsen braucht Arbeitskräfte aus dem Ausland, um die Frauen und Männer zu ersetzen, die in den kommenden Jahren in Rente gehen.  © Imago/Christian Thiel

64 Prozent der Befragten beim Sachsen-Monitor meinen, die Bundesrepublik sei durch die vielen Ausländer "in einem gefährlichen Maß überfremdet" (24 Prozentpunkte mehr als vor zwei Jahren). 45 Prozent stellen infrage, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung im Land noch gilt.

Zwei Drittel vertreten die Position, dass man im Umgang mit anderen Menschen "nicht vorsichtig genug sein kann".

58 Prozent sehen nunmehr ihre Chancen "eher oder sehr schlecht", sozial aufzusteigen (+9). So viel Angst war selten!

Wirtschaft

Der Ausstieg aus der Kohle bedeutet das Ende der Tagebaue in der Lausitz sowie im Mitteldeutschen Revier und neue Umbrüche für die Menschen, die dort leben.
Der Ausstieg aus der Kohle bedeutet das Ende der Tagebaue in der Lausitz sowie im Mitteldeutschen Revier und neue Umbrüche für die Menschen, die dort leben.  © IMAGO/Sven-Erik Arndt

Die gestiegenen Kosten für Energie, Rohstoffe, Gehälter sowie der Fachkräftemangel stellen Geschäftsmodelle und damit Unternehmungen hierzulande infrage. Der begonnene Umbau der Energieversorgung weg von fossilen Brennstoffen bereitet Managern Sorgen, zudem verlangt er von den Firmen Investitionen und Flexibilität.

Tatenhungrige bremsen Inflation, Lieferengpässe, teure Baukosten sowie die Konsumzurückhaltung der Kunden aus. Um Personallücken zu schließen, wird Zuwanderung gebraucht.

Offen gezeigte Fremdenfeindlichkeit hält jedoch manchen Ausländer davon ab, hier Wurzeln zu schlagen.

Politik

Sachsens Demokraten haben Angst vor der kommenden Landtagswahl.
Sachsens Demokraten haben Angst vor der kommenden Landtagswahl.  © Kristin Schmidt/dpa-Zentralbild

Am 9. Juni stehen Kommunalwahlen an. Zahlreiche Engagierte aus der Mitte der Gesellschaft haben angekündigt, 2024 die Räte zu verlassen - aus Altersgründen, aber auch aus Angst vor (oder Erfahrung mit) Hass und Hetze.

Mit Blick auf die kommende Landtagswahl am 1. September besteht nicht nur bei Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (48, CDU) und Gesundheitsministerin Petra Köpping (65, SPD) die Sorge, dass danach keine demokratische Regierung mehr gebildet werden könnte.

Wissenschaft

Viele Fragen quälen derzeit den wissenschaftlichen Nachwuchs.
Viele Fragen quälen derzeit den wissenschaftlichen Nachwuchs.  © dpa/Sebastian Kahnert

Forscher beklagen offen, dass sie im Netz beschimpft und angegriffen werden, weil ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse Teilen der Bevölkerung nicht passen.

Das geht inzwischen so weit, dass kluge Köpfe Themenfelder in Sachsen nicht beackern, weil sie Ausgrenzungen befürchten.

Vertreter von Forschungseinrichtungen berichten, dass exzellente Wissenschaftler aus dem Ausland zögern, hier Lehr- oder Forschungsaufgaben zu übernehmen, weil Sachsen Willkommenskultur fehlt.

"Verunsicherung zieht sich durch alle sozialen Schichten" - Ein Interview mit Sozialpsychologe Prof. Friedrich Funke von der TU Dresden

Sozialpsychologe Prof. Friedrich Funke von der TU Dresden.
Sozialpsychologe Prof. Friedrich Funke von der TU Dresden.  © TU Dresden/K.J. Lassig

TAG24: Sind die Sachsen ein ängstliches Volk geworden?

Prof. Funke: Alle Studien bestätigen, dass Ängste steigen und damit politische Einstellungen einhergehen. Das ist nicht neu. Menschen deswegen zu stigmatisieren, ist aber weder klug noch angemessen. Viele Ostdeutsche haben ganz real in ihrer Biografie andere Erfahrungen gemacht. Sie mussten und müssen Umbrüche bewältigen - schauen Sie nur in die Lausitz.

TAG24: Woher kommen diese übermäßigen Ängste?

Prof. Funke: Sind sie übermäßig? Jein. Wir müssen den Unterschied zwischen politischen Ängsten und etwa Höhenangst verstehen. Letztere kann man mit Psychotherapie gut in den Griff bekommen. Gegen politische Angst gibt es kein Rezept, die funktioniert völlig anders. Sie ist abstrakt, nicht greifbar, diffus und wird erst durch Ideologien übersetzt.

Dazu gehören auch Verschwörungserzählungen. Sie geben plötzlich - scheinbar - allem Sinn. Gerade im Rechtspopulismus sind die Erklärmuster sehr einfach: wir gegen die, unten gegen oben, im wahrsten Sinne des Wortes weiß gegen schwarz. Wer auf diesen schwarzweißen Tasten gut spielen kann, findet viel dankbares Publikum.

TAG24: Inflation und Altersarmut sind real.

Prof. Funke: Ja. Doch Ängste brauchen keine objektive, absolute Ursache. Verunsicherung wird relativ zur eigenen Lebenswelt wahrgenommen. Wohlhabende haben genauso Verarmungssorgen. Dabei sind die Sorgen von Menschen mit Niedriglöhnen oder Halbtagsjobs in der Wissenschaft viel realer.

Man muss Ängste ernst nehmen

TAG24: Ist die Politik gut beraten, diese Ängste ernst zu nehmen?

Prof. Funke: Es wäre politisch unklug und unanständig, diese Ängste wegzuwischen. Man muss sie ernst nehmen, aber den Mechanismus verstehen. Anbiedern und versuchen, den Angstmachern Wähler "abzugraben" ist nicht nur rückgratlos, es funktioniert schlicht nicht. Leider geben sich da einige Politiker falschen Hoffnungen hin. Fairerweise muss dazu aber auch gesagt werden, dass Politiker in einem schwer lösbaren Zwiespalt sind: Sie müssen auch Sicherheit und Hoffnung geben.

TAG24: Man sagt, Angst sei kein guter Berater. Ist da etwas dran mit Blick aufs Wahljahr 2024?

Prof. Funke: Absolut. Angst gibt schlechte Ratschläge. Angst ist eine Emotion wie auch Ärger, Wut, Verbitterung. Die wird man bei Telegram, X, TikTok oder am Stammtisch schnell los. Beifall oder Gegenwind geben einem dort sogar noch recht. So übersetzt sich wahrgenommene Unsicherheit in politisches Handeln.

Es ist allerdings ein großes Missverständnis, wenn wir über politische Angst immer nur im Zusammenhang mit der AfD sprechen. Verunsicherung zieht sich durch alle sozialen Schichten, Altersgruppen und die gesamte politische Landschaft. Um es mit dem Psychologen Viktor Frankl zu sagen: Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.

In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.

Titelfoto: Fotomontage: 123RF//TU Dresden/K.J. Lassig//Kristin Schmidt/dpa-Zentralbild//dpa/Sebastian Kahnert

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