Wenn Familienväter töten: Psychologe im TAG24-Interview

Villingen-Schwenningen - Vergangenes Wochenende ereigneten sich gleich zwei tragische Gewalttaten in Familien. Doch, wie kommt es dazu und was muss passieren, dass ein Mensch seine Familie umbringt? TAG24 hat bei Psychologe Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan nachgefragt.

Einsatzkräfte am Samstag vor dem Wohnhaus der Familie in Tiefenbronn, in der sich vermutlich eine schreckliche Gewalttat ereignet hat.
Einsatzkräfte am Samstag vor dem Wohnhaus der Familie in Tiefenbronn, in der sich vermutlich eine schreckliche Gewalttat ereignet hat.  © Aaron Klewer/Einsatz-Report24/dpa

Am Samstagmittag wird in Tiefenbronn (Nähe Pforzheim) ein 11 Jahre alter Junge lebensgefährlich verletzt auf der Straße gefunden. Als die Polizei das Haus durchsucht, finden sie die Leichen der Mutter und des achtjährigen Bruders. Der 60-jährige Vater steht unter dringendem Tatverdacht. (TAG24 berichtete...)

Ebenfalls am Samstag wird eine 27-jährige Frau mit mehreren Messerstichen in Pforzheim schwer verletzt aufgefunden. Sie erliegt später im Krankenhaus ihren Verletzungen. Unter Tatverdacht steht der 37-jährige Ehemann. (TAG24 berichtete...)

Immer wieder kommt es zu schrecklichen Gewalttaten innerhalb der engsten Familie. Wie kann es dazu kommen, gibt es Anzeichen für solche Taten oder sind das Kurzschlussreaktionen?

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Wir haben bei Diplom-Psychologe Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, Leiter des Instituts für Transkulturelle Gesundheitsforschung, an der DHBW Villingen-Schwenningen nachgefragt. Kizilhan ist Experte auf dem Gebiet der Gewalt- und Traumaforschung.

Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, Diplom Psychologe.
Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, Diplom Psychologe.  © DHBW

TAG24: Was geht in einem Familienvater (oder auch Mutter) vor, wenn dieser plötzlich seine Familie umbringt?

Vor der Tat müssen sich die Väter oder Mütter in einem psychischen Ausnahmezustand befunden haben, der nicht immer von außen gesehen wird.

Sie sind vermutlich innerlich angespannt, entwickeln Todesphantasien gegen sich und anderen gegenüber, und schon eine Kleinigkeit, wie ein Streit oder das Gefühl einer Kränkung, kann die aufgestaute Aggression zur Explosion bringen.

Die Väter oder Mütter verlieren die Kontrolle, wobei ein gewisses Potenzial an Gewalt und Aggression vorhanden sein muss, was aber bisher ausreichend kontrolliert werden konnte. Sie fühlen sich unverstanden, sind vielleicht dem Konflikt gegenüber hilflos, haben Angst die Familie, Kinder oder ihren Status zu verlieren.

Polizei und Rettungskräfte in einem Wohngebiet in Tiefenbronn. Ein Familienvater steht im Verdacht seine Frau und seinen Sohn getötet zu haben.
Polizei und Rettungskräfte in einem Wohngebiet in Tiefenbronn. Ein Familienvater steht im Verdacht seine Frau und seinen Sohn getötet zu haben.  © EinsatzReport24

TAG24: Wie kommt es aus psychologischer Sicht zu solchen Taten?

Menschen mit einer psychischen Labilität und unterdrückter Aggression können bei erhöhter Anspannung und dem Gefühl der "Auswegslosigkeit, des Nicht-Verstandenwerdens" die Kontrolle über sich verlieren und dabei andere und sich selbst verletzen.

Eine solche Gewalt zeigt aber auch die Schwäche dieser Personen, die als Kompensation zur Gewalt greifen, um Macht über Menschen, über ihre Frauen und Kinder zu haben.

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In der Wahrnehmungspsychologie weiß man, dass eine verzerrte und unvollständige Wahrnehmung fast zwangsläufig zu ungeeigneten Handlungen, also auch Gewalt führt.

Gewalt ist verführerisch, weil sie schnell und unmittelbar wirkt. Wird jemand geschlagen, reagiert er augenblicklich darauf mit Schmerz, Unsicherheit, Angst oder auch mit Wut und Gegengewalt. Menschen, die sich gedemütigt und gekränkt fühlen, Angst haben alles zu verlieren, entwickeln auch die Phantasie alles mit sich untergehen zu lassen und können somit versuchen ihre ganze Familien zu töten.

In der Regel wenden Menschen Gewalt nicht spontan an, sofern es sich nicht um pathologische Gewalt und Aggression handelt, da das Risiko, sich selbst dadurch zu schädigen, sehr hoch ist.

Um innere Konflikte zu vermeiden und das psychische Gleichgewicht nicht zu verlieren, bedient sich jeder Mensch unbewusst verschiedener Abwehrmechanismen. In diesem Fall hat bei den Vätern vermutlich eine Regression stattgefunden, also ein Rückzug auf eine frühere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung mit primitiveren Reaktionen. In nur einer kurzen Phase verlieren die Täter jegliche Objektivität und Empathie ihren Liebsten gegenüber und glauben, dass sie es nicht anderes verdient haben, als zu sterben. Väter oder Mütter, die auch versuchen ihre Kinder zu töten glauben häufig, damit die Kinder zu "retten", dass sie ohne sie leiden und nicht mehr überleben können.

Ein Blaulicht vor dem Haus in Tiefenbronn.
Ein Blaulicht vor dem Haus in Tiefenbronn.  © SDMG

TAG24: Werden Gewalttaten häufiger von Männern oder Frauen ausgeübt und warum?

Physische Gewalt wird häufig von Männern begangen. Dies sehen wir auch an der Form von Suiziden. Während Männer sich erhängen, erschießen etc., also harte Maßnahmen anwenden, nehmen Frauen Medikamente und andere sogenannte "weiche" Methoden.

TAG24: Bahnen sich solche Taten an oder ist das eine Kurzschlussreaktion?

Kurzschlussreaktionen sind durchaus möglich, haben aber immer einen Vorlauf und die Persönlichkeiten dieser Personen haben eine ausreichende aggressive Tendenz oder unterdrückte Aggression, die dann in diesen Momenten ausbricht. Denn nicht jede Person, die eine Kurzschlussreaktion hat, wendet auch Gewalt an. Also muss ein gewisses Potenzial an Aggression in diesem Menschen stecken, der das durch aggressive Handlungen zum Ausdruck bringt.

Wir wissen aus der Forschung, dass vor allem erlebte Gewalttätigkeit durch andere ein wesentlicher Faktor dafür ist, später selbst Gewalt anzuwenden. Gewalt in Familien wird durch die Sozialisation an die nächste Generation weitergegeben.

Daher müssen insbesondere Kinder besser als gegenwärtig davor geschützt werden, dass Eltern mit ihrem eigenen Leben nicht zurechtkommen und aus der Ohnmacht und Enttäuschung über ihr Versagen ihre Aggressionen gegen ihre Kinder wenden. Dies ist Prävention und kann in den Schulen und durch verschiedene Medienkampagnen in die Bevölkerung hineingetragen werden.

Wenn wir Gewalt in der Familie vermindern wollen, dann ist das ein langwieriger Prozess, bei dem Gewalt vermutlich von Generation zu Generation um wenige Prozentpunkte vermindert wird. Dies bedeutet, dass wir nicht erst handeln, wenn sich schon solche Tragödien ereignet haben, sondern hätten schon gestern handeln müssen.

Die Spurensicherung am Tatort.
Die Spurensicherung am Tatort.  © SDMG

TAG24: Oft wirken die Familien vor der Tat augenscheinlich "ganz normal": Ist das nur die äußere Wahrnehmung?

Das ist in der Tat nur die äußere Reaktion. Im Vorlauf der Tat muss schon ein Prozess begonnen haben, der von außen nicht zu erkennen war. Sie wirken häufig gegenüber anderen, zum Beispiel am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis völlig unauffällig, können dies gut verstecken oder verdrängen.

TAG24: Gibt es bestimmte familiäre Strukturen, in denen solche Taten häufiger auftreten oder zieht es sich durch alle Schichten?

Studien gehen, davon aus, dass Personen mit einer brüchigen Biographie, Gewalterfahrungen vor allem in der Kindheit, geringe Reflektionsfähigkeit, um Konflikte verbal ausdrücken zu können, niedriger, sozioökonomischer Status und mit psychische Labilität häufiger Gewalt anwenden.

Es gibt auch sogenannte Intellektuelle mit guten sozioökonomischen Status, die zu Täter werden, weil sie den Verlust und Kränkung ihre Familie nach ihren Vorstellungen nicht aushalten können, Gewalt anwenden oder in Extremfällen Familienmitglieder töteten.

Allgemein können folgende Risikofaktoren für eine Gewaltanwendung ausgemacht werden: häusliche Gewalt, harter Erziehungsstil wird als normal angesehen, Mangel an elterlicher Fürsorge, anti-soziales Verhalten ist alltäglich, geringe Kompetenz bei Problemen, keine Integration im Arbeits- und Alltagsleben, geringes Einkommen und geringe Ausbildung.

In dem Haus hinter den Bäumen und Büschen soll die Tat am Samstag passiert sein.
In dem Haus hinter den Bäumen und Büschen soll die Tat am Samstag passiert sein.  © SDMG

TAG24: Gibt es vor einer solchen Gewalttat Anzeichen, die man erkennen kann?

Sicherlich wäre zu überprüfen, ob häufige Kontrollverluste wie Gewalt gegen sich und andere auftreten, es häufiger zu Aggressionsformen, wie Schreien kommt, außerdem können Handlungs- und Sprachunfähigkeit bei Konflikten, Gegenstände zerstören etc. erste Hinweise sein. Sollten diese Formen zunehmen, so ist eine psychologische Hilfe dringend notwendig. Im Sinne von Prävention wäre auch dann eine Trennung, auch nur für eine gewisse Zeit, ratsam. Es gibt auch Personen, denen es nicht anzusehen ist, wie bei den typischen Amokläufern.

TAG24: Gibt es Präventionsmaßnahmen?

Universale Gewaltprävention, die prinzipiell alle Menschen ansprechen sollen, heißt immer auch: Eine Veränderung der Wahrnehmung und Einstellung zur Frage, was, wann in welchem Kontext überhaupt als Gewalt gilt und wie stark jeder Einzelne die individuelle Verantwortung hat, zu einem gewaltfreien Miteinander beizutragen.

Die Kenntnis dieser Strukturen und Gesetzmäßigkeiten bildet eine hilfreiche Grundlage, um dieses hochsensible Thema angemessen zu verstehen und präventiv zu intervenieren. Hierzu müssen die Menschen stärker informiert und die Möglichkeit haben unkompliziert Beratungsstellen aufzusuchen und im Notfall immer die Polizei einschalten.

TAG24: In einem der angesprochenen Fälle hat das Familiendrama ein 11-jähriger Junge überlebt. Wie kann man mit so einem Schicksalsschlag fertig werden?

Bei dem 11-jährigen Jungen ist zunächst eine psychosoziale Betreuung und Begleitung notwendig. Der Junge wird lange benötigen, bis er die Tat einigermaßen für sich verarbeiten kann. Es muss mit ihm daran gearbeitet werden, dass er nicht den Glauben an die Menschen verliert und er sich sozial zurückzieht.

Denn Personen, denen er eigentlich Vertrauen sollte, die ihn schützen sollten, sind tot oder in Haft und in diesem Fall wollte der eigene Vater ihn vermutlich töten. Dieser Vertrauensverlust wird bei dem Jungen vermutlich für immer seine Persönlichkeit prägen.

Daher ist es notwendig mit Fachleuten (Psychologen, Sozialarbeiter und Lehrern) daran zu arbeiten, dass der Junge die Möglichkeit bekommt sich wieder in die Gemeinschaft zu integrieren, um mit seinem Trauma, Gefühlen und Ängsten umzugehen.

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