Zwei Tage ohne Schlaf: Extremwanderin aus dem Vogtland einfach nicht zu bremsen

Vogtland - Sie läuft und läuft und läuft. Christin Ziehr (36) kennt keine Pausen, rast rastlos durch ihr Privat- und Berufsleben. Als Extremwanderin läuft sie Riesenstrecken über 100 Kilometer ohne Rast und Ruh und das teilweise über zwei Tage lang am Stück - ohne Schlaf!

Wo andere verzweifeln würden, kann sie noch strahlen: Christin Ziehr (38) läuft täglich bis zu 45.000 Schritte und damit bis zu 35 km am Tag.
Wo andere verzweifeln würden, kann sie noch strahlen: Christin Ziehr (38) läuft täglich bis zu 45.000 Schritte und damit bis zu 35 km am Tag.  © privat

Die unermüdliche Ausdauer hat ihr schon zwei Weltmeister-Titel und einen Weltrekord im Extremwandern beschert. Von Erschöpfung keine Spur - im Gegenteil: Christin ist laufend glücklich.

Ihre letzte Marathontour liegt erst ein paar Tage zurück. Anfang Mai wanderte Christin Ziehr (38) auf der Tartanbahn durch das Vogtlandstadion in Plauen - Runde für Runde insgesamt 24 Stunden lang!

Drückende Müdigkeit oder Angst vorm Versagen - alles Fehlanzeige! Am Ende blieb der Kilometerzähler bei 149 stehen.

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Als Lohn für die Megatour sammelte sie förmlich im Vorbeigehen über 5000 Euro Sponsorengelder für das Auerbacher Kinderheim "Wichernhaus", die AWO-Inobhutnahme und die Opferhilfe Sachsen e.V. ein.

Nach dem Radfahren kam das Laufen

Wo andere verzweifeln würden, kann sie noch strahlen: Christin Ziehr (38) läuft täglich bis zu 45.000 Schritte und damit bis zu 35 km am Tag.
Wo andere verzweifeln würden, kann sie noch strahlen: Christin Ziehr (38) läuft täglich bis zu 45.000 Schritte und damit bis zu 35 km am Tag.  © imago/imagebroker

Doch am Anfang des Wanderns stand das Radeln. "Als 16-Jährige wollte ich abnehmen und schwang mich dafür in aller Herrgottsfrühe aufs Rad", erzählt Christin. Damals brachte die 1,65 m große Vogtländerin 86 Kilo auf die Waage.

Sie stand jeden Tag um vier Uhr auf, um sich vor Beginn ihrer Lehre Morgen für Morgen Pfunde abzustrampeln. Lohn der Frühschicht vor der Frühschicht: In zwei Jahren schmolzen 36 Kilo, "und es gab plötzlich mehr Angebote von Männern als davor".

Mit einem war sie 17 Jahre zusammen, bis sie ihm aus persönlichen Gründen den Laufpass gab.

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Um sich als Single neu zu erfinden, fing sie spontan mit dem Laufen an. "Vor Arbeitsbeginn beim Pflegedienst, den ich mit meiner Mutter betreibe, bin ich frühmorgens einfach losgelaufen."

Erst fünf, dann zehn und schließlich 20 Kilometer. Und dann noch einmal in Arbeitspausen auf einem extra angeschafften Laufband im Büro. "Sogar meinen Sohn Mats nahm ich im Kinderwagen vier Stunden täglich mit auf meine Laufstrecken." Sie lief, er schlief.

Meist als Einzelkämpferin unterwegs

Veranstaltungen für Gleichgesinnte gibt es mittlerweile einige.
Veranstaltungen für Gleichgesinnte gibt es mittlerweile einige.  © IMAGO/Funke Foto Services

Lunte geleckt an Megamärschen hat sie 2022 in Frankfurt/Main: "Bei meinem ersten 100-Kilometer-Marsch war mein Kopf frei wie nie und ich war megacool - eine tolle Erfahrung."

So gut lief's weiter. Nur ein Jahr später konnte sie nach der Wander-WM in Duisburg bereits aufs Siegertreppchen klettern, um sich die Goldmedaille als schnellste Frau abzuholen. Sie schaffte im ersten Anlauf in 24 Stunden 136 Kilometer auf einem 8-Kilometer-Rundkurs - Weltmeisterin!

Nur eines störte sie: die hunderten Mitläufer. So wurde sie zur Einzelgängerin, tastete sich mit den Füßen langsam an ultralange Strecken heran. Zum Training ging's mit dem Zug nach Leipzig, dann zu Fuß nach Plauen zurück.

Oder 100 Kilometer am Stück durchs Weserbergland, 120 Kilometer durch die Lüneburger Heide und 100 Kilometer auf dem Wandersteig "Donauwelle" mit 4000 Höhenmetern durchs Donaubergland.

Meist als Einzelkämpferin und ohne Verein unterwegs wunderte sich die unbekannte Athletin einer zudem exotischen Sportart, als sie 2023 im Vogtland zur Sportlerin des Jahres spontan auf den zweiten Platz gewählt wurde.

Mit dem Ruhm wuchs das Interesse am Extremwandern. "Dabei geht es immer geradeaus", erklärt sie. "Auf der 175 Kilometer langen Strecke von Dresden nach Plauen war ich im April 2024 beispielsweise 30 Stunden am Stück unterwegs. Die Strecke umfasst 3500 Höhenmeter und verläuft quer durchs Erzgebirge."

Am Rennsteig erwanderte Christin Ziehr sich einen WM-Titel.
Am Rennsteig erwanderte Christin Ziehr sich einen WM-Titel.  © IMAGO/Bild13

Cola und Gummibärchen mit Koffein gegen die Müdigkeit

Wenn der kleine Hunger kommt, muss Christin gewappnet sein. Klar: Von nix kommt nix.
Wenn der kleine Hunger kommt, muss Christin gewappnet sein. Klar: Von nix kommt nix.  © privat

Über die Wander-App Komoot lässt sie sich eine Route vorschlagen, läuft dann meist zwischen 8 und 9 Uhr los. "Manchmal sind die ausgewiesenen Wege allerdings längst zugewuchert und ich muss über Zäune klettern", verrät Christin, die ihren zweiten Weltmeistertitel 2024 beim Rennsteiglauf einheimste - 170 Kilometer in 30 Stunden.

Wenn der kleine Hunger kommt, wird der Proviant angerissen, den sie sich vorher in den Rucksack gepackt hat: sieben bis zehn Kilo voller Müsli- und Schokoriegel, die Color-Rado Mischung von Haribo und Backwaren.

"Ich liebe Brezeln und Laugenstangen, die zudem für die nötige Salzzufuhr sorgen." Doch was vorn reinkommt, muss doch hinten auch wieder raus? "Klar, die Toilette ist der Wald", schmunzelt Christin.

Isotonische Getränke stillen den Durst zwischendurch. "Ich muss auf den Touren regelmäßig und viel trinken, denn wenn der Durst kommt, ist es schon zu spät."

Cola und Gummibärchen mit Koffein kämpfen zudem gegen die Müdigkeit an. "Wenn die kommt, hilft nur eins - weiterlaufen! Das ist die wichtigste Regel des Extremsports, denn die Muskeln müssen warm bleiben", weiß die Plauenerin.

Tag und Nacht verschmelzen zu einer Einheit

Extremwanderer sind kaum zu bremsen, der Bevölkerungsmehrheit aber eher ein Rätsel.
Extremwanderer sind kaum zu bremsen, der Bevölkerungsmehrheit aber eher ein Rätsel.  © IMAGO/Funke Foto Services

Sie läuft nicht nur bei Wind und Wetter, sondern sogar als Schlafwandlerin weiter! "In der zweiten Nacht einer Wanderung bekomme ich manchmal Halluzinationen und laufe dann im Schlafen weiter", gesteht Christin.

Beim Extremwandern verschwimmen die Tageszeiten, Tag und Nacht verschmelzen zu einer Einheit. "Dann erscheinen mir manchmal Gestalten, die förmlich aus den Bäumen heraustreten. Bei meiner 55 Stunden langen Bodensee-Umrundung im September 2024 fror plötzlich die gesamte Landschaft ein und ich wanderte auf einmal durch hohe Schneewehen - auch eine Halluzination."

Aus dem Dämmerschlaf erwachte sie mit feuchten Füßen. "Ich war schlafend in den See gelaufen und wurde plötzlich wach, als es nass wurde."

Doch die feuchte Einlage hatte sich gelohnt: Am Ende wurde die 270 km lange Bodensee-(Tor-)Tour sogar als Weltrekord aktenkundig.

Angst vor unheimlichen Begegnungen hat sie nicht. "Ich weiß doch, dass sie wieder vergehen, wenn ich geschlafen habe." Auch nachts mutterseelenallein im Schoß von Mutter Natur fühlt sie kein Unbehagen.

"Ich bin schon über 20 Mal durch dunkle Wälder gelaufen und dabei noch niemandem begegnet - außer Rehen, Eichhörnchen und einmal einer Maus", winkt Christin ab. "Und wenn mich doch mal etwas erschreckt, kann ich mit einer Trillerpfeife zurück erschrecken."

Motivationstipps der Expertin

Schnelle Energie ist gefragt, wenn die auch nicht immer gesund sein muss.
Schnelle Energie ist gefragt, wenn die auch nicht immer gesund sein muss.  © IMAGO/Zoonar

Solo-Ultramärsche, ohne umzufallen - ein Extremsport von Faszination bis Halluzination. Wie kann man das durchhalten, ohne aufzugeben? Christins Motivationstricks können auch Nichtwanderern auf die Sprünge helfen.

"Immer durchhalten bis zum bitteren Schluss, lautet die oberste Maxime", erklärt sie. "Man sollte in schwachen Minuten hinterfragen, warum man aufhören wollte - leidet man wirklich oder hat man nur keinen Bock?"

Wer wankelmütig wird, kann sich nach einer absolvierten Etappe selbst belohnen: "So kann man sich nach 40 Kilometern einen Schokoriegel gönnen." Um auf andere Gedanken zu kommen, ist manchmal auch ein Handytelefonat mit Freunden hilfreich, "um mal eine vertraute Stimme zu hören, die Mut machen kann."

Neuen Schub bei Lauffaulheit bringe auch, Lieblingslieder zu hören und die Refrains vielleicht mitzusingen. Und wenn mal eine Tour abgebrochen werden musste, sich vom Misserfolg nicht einschüchtern lassen.

Auch die rastlose Christin schmiedet schon wieder neue Pläne: Nächstes Jahr will sie vom nördlichsten zum südlichsten Punkt Deutschlands wandern. "Und ich möchte einmal den Transeuropa-Wanderweg bezwingen - zehn Tage lang je 100 Kilometer wandern."

Am 17. Juni will sie aber erst mal einen neuen Weltrekordversuch starten: 350 Kilometer von Berlin nach Plauen in 72 Stunden.

Titelfoto: Pirvat (2)

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