So ist mein Alltag im Krieg: Eine junge Frau erzählt vom Leben in Kiew

Kiew - Am 24. Februar griff Russland die Ukraine an. Seitdem ist in dem stolzen Land nichts mehr so wie zuvor. Viele Städte sind zerstört, Hunderttausende aus ihrer Heimat geflohen. Doch es gibt sie, die Menschen, die der Angst trotzen und ihr zu Hause nicht verlassen wollen. Eine davon ist Nastya (24) aus Kiew. Für TAG24 hat die junge Frau ihre teils erschütternden Erlebnisse aus drei Monaten Krieg zu Papier gebracht und geschildert, ob es in der ukrainischen Hauptstadt noch sowas wie Alltag gibt.

Nastya (24) ist eine junge Frau aus Kiew. Für TAG24 schildert sie ihren Alltag zwischen Ruinen, scheinbarer Normalität und der Angst um ihren Liebsten.
Nastya (24) ist eine junge Frau aus Kiew. Für TAG24 schildert sie ihren Alltag zwischen Ruinen, scheinbarer Normalität und der Angst um ihren Liebsten.  © Montage: Nastya (2)

"Das Leben in Kiew ist gerade halbwegs ruhig", beschreibt Nastya die aktuelle Situation in der ukrainischen Hauptstadt. Ab und an sieht man noch Militär, gibt es Kontrollpunkte auf den Straßen oder heulen die Sirenen.

Auch die Geschäfte sind erstaunlich gut gefüllt. "Die Preise sind ein bisschen höher, aber es ist nicht kritisch."

Probleme gibt es eher bei der Versorgung mit Benzin, weil die "russischen Besatzer viele Ölstationen in der ganzen Ukraine bombardiert haben". Um noch Sprit für das eigene Auto zu bekommen, müssen die Menschen teils tagelang Schlange stehen, Nastyas Mutter letztens erst ganze 48 Stunden.

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Sogar die Cafés, Kaufhäuser und Schönheitssalons öffnen schrittweise wieder. "Man kann auch die Zeit draußen verbringen", sich zu Hause mit Freunden treffen, ins Restaurant oder Kino gehen.

Manche Bars veranstalten gar Tagespartys. Aber das versteht Nastya nicht: "Wie kann man Spaß haben, während deine Verwandten, Freunde und Bekannten in Ost und Süd kämpfen und sterben?"

Und das ist er, der kleine, aber sehr entscheidende Unterschied zu einem Leben in Frieden und Freiheit. Anderenorts geht das Töten, die Zerstörung und das Leid unvermittelt weiter. "Es ist nicht leicht, zu sagen, dass alles gut ist, weil es das nicht ist. Äußerlich ist die Situation in Kiew und der Region ruhig, aber unsere Mitmenschen leiden an der Okkupation und den Feindseligkeiten im Süden und Osten."

Sowas sieht man noch immer auf den Kiewer Straßen.
Sowas sieht man noch immer auf den Kiewer Straßen.  © Nastya
Es ist der krasse Gegensatz, mit dem die Menschen in und um Kiew aktuell klarkommen müssen. Während manch Supermarkt noch so herrlich normal wie auf diesem Bild ausschaut, sind andere in Gänze zerstört.
Es ist der krasse Gegensatz, mit dem die Menschen in und um Kiew aktuell klarkommen müssen. Während manch Supermarkt noch so herrlich normal wie auf diesem Bild ausschaut, sind andere in Gänze zerstört.  © Nastya
Irgendwas zwischen Krieg und Frieden: Eine Straßenszene aus Kiew.
Irgendwas zwischen Krieg und Frieden: Eine Straßenszene aus Kiew.  © Nastya

"Manchmal sind wir in der Nacht wegen der Bombenangriffe aufgewacht"

Auch Nastya bekam die Kämpfe in nächster Nähe mit.
Auch Nastya bekam die Kämpfe in nächster Nähe mit.  © Montage: Nastya (2)

Diese Angst, die die Menschen im Süden und Osten des Landes aktuell durchleiden - auch Nastya hat sie kennenlernen müssen. In Wassylkiw im Süden der Millionenmetropole - dort steht das kleine Landhaus der Familie - gab es wenige Tage nach Ausbruch des Krieges ebenfalls schwere Kämpfe.

"Wir waren sehr verängstigt, denn die Besetzer haben jeden Tag und Nacht in Kiew, Irpin, Butscha, Hostomel und Wassylkiw gebombt." Besonders in Erinnerung geblieben sind ihr der Lärm und die Wucht der Detonationen, die das kleine Häuschen der Familie haben erzittern lassen.

Um sich irgendwie vor den Angriffen zu schützen, übernachteten sie auf Feldbetten im Keller. "Manchmal sind wir in der Nacht wegen der Bombenangriffe aufgewacht."

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Nastya wohnt aktuell noch immer in diesem Haus. Ihren Job hat sie wegen des Krieges verloren. Aktuell sucht sie "nach neuen Möglichkeiten".

"Manchmal fahre ich nach Kiew, um mich mit meinem geliebten Mann zu treffen. Diese Stunden sind die fröhlichsten." Früher lebten beide zusammen, inzwischen ist er bei der Armee. "Er will, dass unser Heimatland frei ist und nimmt das als seine männliche Pflicht wahr."

Gemeinsam mit anderen Männern seiner Truppe wartet er aktuell in der Hauptstadt auf seinen Einsatz. Wann genau der losgehen wird, hängt auch von den Waffen ab, die der Westen der Ukraine liefert.

"Das ist doch keine fröhliche Situation! Wir wissen nicht genau, was uns die Zukunft bringen wird. Können wir unsere Pläne verwirklichen, oder nicht? Ich glaube daran und will, dass mein geliebter Mensch lebend zurückkommt. Und so geht es Millionen ukrainischer Frauen."

"Jedes Kind, jede Frau und jeder Mann in unserem Land sind bedroht"

Die Spuren des russischen Angriffs sind unübersehbar und stehen symbolisch dafür, dass im aktuell ruhigen Kiew alles andere als Frieden ist.
Die Spuren des russischen Angriffs sind unübersehbar und stehen symbolisch dafür, dass im aktuell ruhigen Kiew alles andere als Frieden ist.  © Montage: Nastya (2)

Ein möglicher Einsatzort für Nastyas Freund könnte die Region Cherson sein. Die ist von russischen Truppen besetzt und die Landschaft geprägt von vielen Feldern. Das macht es für die ukrainischen Soldaten besonders gefährlich, sind sie so doch einfacher zu entdecken. "Ich fühle mich deswegen furchtbar."

In ihrer verzweifelten Lage hat die 24-Jährige auch noch eine Botschaft an uns Europäer: "Ich will, dass die Europäer verstehen, dass Russen und Ukrainer keine Brudervölker sind. Wir sind ganz anders. Jedes Kind, jede Frau und jeder Mann in unserem Land sind bedroht. Das ist nicht nur ein Krieg in unserem Land, das ist ein Krieg um unser Dasein. Ich möchte, dass Ihr das versteht."

Und weiter: "In den freien Territorien sieht das Leben normal aus. Aber der Eindruck täuscht. [...] Unser Leben ist nicht friedlich. Wir sehen, wie unsere Männer und Frauen sterben, wie unsere Städte, wie unsere Kulturstätten zerstört, wie unsere Städte ausgelöscht werden. Alle unsere Pläne und Träume sind von einem auf den anderen Augenblick in sich zusammengefallen."

Titelfoto: Montage: Nastya (2)

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