Autorin Nadia Shehadeh läutet die Anti-Girlboss-Ära ein: "Erfolg macht Menschen nicht freier!"

Hamburg/Bielefeld – Sogenannte "Girlbosse", also Frauen, die sich in einer männerdominierten Welt durchgesetzt und Karriere gemacht haben, suggerieren gerne, dass jede ihnen nacheifern kann. In einer von sozialer Ungerechtigkeit geprägten Welt eine reine Illusion, sagt Autorin und Soziologin Nadia Shehadeh (42) im TAG24-Interview. Ihr neues Buch "Anti-Girlboss: Den Kapitalismus vom Sofa bekämpfen" beschäftigt sich mit der Gegenbewegung und ist ein Plädoyer gegen den Leistungsdruck und für den Müßiggang.

Nadia Shehadehs (42) Buch "Anti-Girlboss: Den Kapitalismus vom Sofa bekämpfen" erschien am 23. Februar im Ullstein-Verlag.
Nadia Shehadehs (42) Buch "Anti-Girlboss: Den Kapitalismus vom Sofa bekämpfen" erschien am 23. Februar im Ullstein-Verlag.  © Makbule Keles

TAG24: Frau Shehadeh, warum haben Sie sich dazu entschieden "Anti-Girlboss" zu schreiben?

Shehadeh: Insbesondere hat natürlich meine Soziologinnen-Brille zum Buch geführt. Mir ist klar, dass Erfolg Menschen nicht freier und die Gesellschaft nicht besser macht.

Tatsächlich aber ist die Idee aus einer Kolumne über fehlende Ambitionen entstanden, die ich für das 'Missy Magazine' geschrieben habe. Das eigene Auseinandersetzen mit meinem eigenen Karriere- und Vorwärtsstreben beschäftigt mich schon seit ein paar Jahren.

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TAG24: Gab es einen bestimmten Auslöser?

Shehadeh: Mit Anfang 30 arbeitete ich in einer Führungsposition - und hatte absolut keine Freude an meiner Rolle. Nach zwei Jahren habe ich mich damals entschieden, dass das nichts für mich ist. Und mich auch einen kurzen Moment lang schlecht dafür gefühlt, dass ich mich nicht zu Höherem berufen fühle. Aber ich dachte auch: Wieso eigentlich?

TAG24: Also weder den Wunsch, befördert zu werden noch aufzusteigen?

Shehadeh: Genau. Was ja eigentlich total banal ist. In unserer Gesellschaft ist ja nicht jeder Chef*in, Unternehmer*in oder in irgendeinem Glitzerjob unterwegs. Nach meiner Kolumne damals habe ich dann superviele Zuschriften bekommen, gerade von jungen Berufseinsteigerinnen, die ständig unter Druck stehen und das Gefühl haben, sie müssen immer nur liefern und leisten. Da dachte ich: Da kann ich doch nochmal genauer draufschauen - und mit meinen Thesen vielleicht die ein oder andere Person entlasten.

Nadia Schehadeh: "Es ist nicht die einzelne Person, die sich ändern muss, sondern das System!"

Nadia Shehadeh arbeitet seit 2007 hauptberuflich als Soziologin in der Erwachsenen- und Jugendarbeit. Sie hat keine Ambitionen ein sogenannter "Girlboss" zu sein.
Nadia Shehadeh arbeitet seit 2007 hauptberuflich als Soziologin in der Erwachsenen- und Jugendarbeit. Sie hat keine Ambitionen ein sogenannter "Girlboss" zu sein.  © privat

TAG24: Also steht der Zeitpunkt für das Erscheinen Ihres Buches gar nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem von Ihnen beschriebenen Ende der "Girlboss"-Ära?

Shehadeh: Doch, auch. Dass die Diskurse um die Girlbosse seit ein paar Jahren kritischer geführt werden, ist ja nichts Neues. Als ich das Buch geschrieben habe, kamen medial dann auch noch allerhand andere Themen auf den Tisch - das war natürlich fast schon eine wundersame Fügung.

Es wurde debattiert um "Quiet Quitting" und die "Great Resignation", und in den Sozialen Medien formierte sich so etwas wie eine "Anti-Work"-Bewegung. Ich fand es interessant, wie vehement diskutiert wurde. Und wie auf einmal der Umstand, dass Arbeitnehmer*innen Grenzen setzen, als komplett wilde Einstellung galt, die am Rande der Arbeitsverweigerung operiert. Und das ist natürlich Quatsch.

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Dass wiederum Chancengleichheit eine Illusion ist und soziale Missstände eben nicht dadurch ausgemerzt werden können, dass Menschen sich einfach mehr abrackern, ist eine Realität. Und empirisch belegt.

TAG24: Was mich vor allem stört, ist, dass der Begriff suggeriert, dass Frauen nur emanzipiert sind, wenn sie dieselben Rollen einnehmen, wie Männer es jahrelang getan haben.

Shehadeh: Genau. Und das ist für viele ja auch überhaupt nicht attraktiv. Selbst wenn man sagen würde "Mensch, ich habe richtig Bock, mich beruflich auszupowern" - ich bezweifle, dass alle das in ebenjenen Strukturen tun möchten, die irgendwann mal Männer erschaffen haben.

Und gleichzeitig steckt da immer die Idee dahinter, dass wir Geschlechterungerechtigkeiten beseitigen können, wenn Frauen einfach mal aus dem Quark kommen würden. Dabei ist es ja nicht die einzelne Person, die sich ändern muss, sondern das System.

"Die Lebensrealität der allermeisten Menschen ist: Man arbeitet, weil man muss."

Das Cover von "Anti-Girlboss: Den Kapitalismus vom Sofa bekämpfen" lädt zum Faulenzen ein. Am besten mit einem guten Buch.
Das Cover von "Anti-Girlboss: Den Kapitalismus vom Sofa bekämpfen" lädt zum Faulenzen ein. Am besten mit einem guten Buch.  © Ullstein

TAG24: Sie schreiben, dass Sie keine beruflichen Ambitionen mehr haben und einer Ihrer liebsten Beschäftigungen Binge-Watching auf dem Sofa ist. Wie passt die freiwillige Entscheidung ein Buch zu schreiben dort hinein?

Shehadeh: Große Ambitionen sind tatsächlich nicht meine Baustelle. Aber ich habe immer schon sehr viel Antrieb gehabt - auch beruflich. Ich mache gern was ich tue - sei es als Soziologin oder Autorin. Klar, natürlich habe ich mich zwischendurch auch gefragt, ob ich vielleicht eine Scammerin bin, die zwar behauptet, dass sie Erfolg überhaupt nicht wichtig findet - aber dann mit einem eigenen Buch um die Ecke kommt.

Ich finde aber, ein "Anti-Girlboss" zu sein, muss jetzt nicht komplette Erfolglosigkeit als Zustand bedeuten. Man kann erfolgreich sein und sich trotzdem darüber im Klaren sein, dass dieser Erfolg die Gesellschaft nicht zum Besseren revolutionieren wird.

TAG24: Eigentlich ist Faulheit ja auch ein Luxusgut.

Shehadeh: Genau. Diejenigen, die gar nicht arbeiten müssen, weil sie von ihrem Vermögen leben können, die werden ja auch nicht angegriffen. Da sagt ja keiner: "Mensch, sind das faule Luschen". Aber wenn Leute zur Arbeit gehen und pünktlich Feierabend machen, wird so ein tragbarer Begriff wie "Quiet Quitting" aus der Grube geholt. Und wenn Leute nicht arbeiten können oder dürfen, wird auch nochmal ganz anders nach unten getreten. Die Lebensrealität der allermeisten Menschen ist: Man arbeitet, weil man muss.

Nicht jede*r hat einen Traumjob, nicht jede*r hat die für sich maßgeschneiderte Perspektive aus dem Katalog, sondern die meisten Menschen freuen sich aufs Wochenende und fahren gern in den Urlaub. Das sind ganz profane Wahrheiten, behaupte ich jetzt einfach mal - die komischerweise immer noch tabuisiert werden.

"Ein halbwegs öder Tag zu Hause ist immer noch besser als ein interessanter auf Arbeit!"

TAG24: Hatten Sie beim Schreiben manchmal Bedenken, wie Ihr Buch ankommen wird?

Shehadeh: Ja, natürlich. Man schreibt ja für ein Publikum, das man erreichen möchte. Und natürlich war mir klar, dass ich mit heißen Eisen hantiere. Gleichzeitig erschienen mir Sätze wie "Ein halbwegs öder Tag zu Hause ist immer noch besser als ein interessanter auf Arbeit" als wirklich banal.

Jetzt, nach Erscheinen des Buches, ist es spannend zu sehen, wie die Reaktionen sind. Ich war mir aber auch sehr sicher: Da draußen sind viele so wie ich. Und das bestätigt sich jetzt.

TAG24: Ein Tipp für den ersten Schritt in Richtung "Anti-Girlboss"?

Shehadeh: Einfach mal auf sich hören und den eigenen Bedürfnissen ohne schlechtes Gewissen nachgeben - ohne diese ständig pathologisieren zu müssen.

Am 16. März liest Nadia Shehadeh aus ihrem neuen Buch "Anti-Girlboss" in der Thalia Buchhandlung in der Hamburger Europa Passage. Tickets gibt es auf Reservix und in allen Thalia Buchhandlungen in Hamburg. Am 30. März macht sie Station in der Bettina-von-Arnim-Bibliothek in Berlin.

Titelfoto: Makbule Keles

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