Warum die Belgier diese Villa in Chemnitz lieben

Chemnitz - Die Belgier haben einen Lieblingsplatz in Sachsen. Der heißt nicht "Dresdner Frauenkirche" oder "Leipziger Seenland". Der Lieblingsort belgischer Bürger befindet sich auf dem Kapellenberg in Chemnitz und ist ein Haus, genauer die "Villa Esche", gebaut vom Belgier Henry van de Velde (1863-1957).

Prachtvoll erhebt sich die "Villa Esche" über einem Park.
Prachtvoll erhebt sich die "Villa Esche" über einem Park.  © Kristin Schmidt

"Er hat einfach alles im Haus entworfen: Klinken, Wandbespannung, Möbel. Ja selbst das Familienporzellan und den Brieföffner", berichtet Andrea Pötzsch (58).

"Wir haben hier ein Denkmal von europäischem Rang!" Die promovierte Historikerin leitet das faszinierende Gebäude, das so viel mehr ist als nur ein Architekturmuseum und ein Mekka für Gestaltung. Denn der Ort lebt.

Die Geschichte der Villa ist eng der Wirtschafts- und Zeithistorie von Chemnitz verknüpft. Doch so ein Gesamtkunstwerk muss man sich als Bauherr leisten können. Esches konnten das. "Die Familie hatte das führende Strumpfunternehmen Deutschlands", weiß Pötzsch.

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Man schreibt das Jahr 1898. Einer der Söhne der Familie, Herbert (1874-1962), ist gerade in die väterliche Firma eingetreten. Da fällt seiner Verlobten Johanna Luise Koerner (1879-1911) ein Vorgänger von "SCHÖNER WOHNEN" in die Hand.

Die Sonderausgabe der "DEKORATIVEN KUNST" befasst sich mit van de Velde. Der Belgier sorgt international für Schlagzeilen, weil er den angesagten Jugendstil überwinden will - und im Grunde die Brücke zum Bauhaus schlagen wird.

Das junge Paar lässt sich 1898 von ihm die Wohnung einrichten, findet aber bald, dass das Gründerzeit-Haus und ihr Avantgarde-Interieur nicht so recht zusammenpassen. Ein Haus zur Inneneinrichtung muss her. 1902 beginnen die Planungen, 1904 zieht man ein.

In der ehemaligen Remise befindet sich ein zauberhaftes Restaurant mit erlesener, gar nicht mal so teurer Speisekarte.
In der ehemaligen Remise befindet sich ein zauberhaftes Restaurant mit erlesener, gar nicht mal so teurer Speisekarte.  © Kristin Schmidt

Handwerker machten verfallene Villa wieder flott

Hausherrin Andrea Pötzsch (58) kennt die bewegte Geschichte der Villa.
Hausherrin Andrea Pötzsch (58) kennt die bewegte Geschichte der Villa.  © Kristin Schmidt

1945 setzte sich die sowjetische Militäradministration im Haus fest. Esche floh in die Schweiz. Zwischen 1947 und 1952 diente es als Wohnsitz, danach bis 1964 der Stasi. Von da bis zur Wende nutzte es die Handwerkskammer als Ausbildungszentrum.

"Das traf sich später bei der Sanierung: Viele hier ausgebildete Handwerker wirkten an der Wiederherstellung mit", so Pötzsch. Denn zwischen 1990 und 1998 verfiel die Villa erbärmlich.

Seit 2001 ist sie ein offenes Haus. Tagungen, Konzerte, Jugendweihen. Eine Lesereihe holt regelmäßig prominente Gäste wie Dieter Mann, Michael Degen, Joachim Gauck, Gisela Steineckert oder Rainer Calmund herbei. Mozart-Gesellschaft, Goethe-Gesellschaft und Heym-Gesellschaft geben sich die eleganten Klinken in die Hand.

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Auch die Musikschule ist zu Gast, ebenso das "Theater im Salon". Nebenan in der Remise lässt es sich trefflich schmausen und plauschen. Eine spezielle Boutique verführt zum Shoppen.

Selbst eine Begegnung mit Monsieur van de Velde und Familie Esche ist denkbar: Eine neue App erweckt sie als Avatare zum Leben. Und weil die Villa als Höhepunkt der Europäischen Henry-van-de-Velde-Route gilt, laufen einem bestimmt auch lebendige Belgier über den Weg.

Henry van de Velde (1863-1957) baute die "Villa Esche".
Henry van de Velde (1863-1957) baute die "Villa Esche".  © imago images/Artokoloro

Die schönen Ecken von Chemnitz

Die historische Markthalle. Der wunderschöne Bau von 1891 beherbergt heute unter anderem ein Kabarett und einen Pub.
Die historische Markthalle. Der wunderschöne Bau von 1891 beherbergt heute unter anderem ein Kabarett und einen Pub.  © Uwe Meinhold

Chemnitz-Gäste, die sich die städtebaulich geschundene City trotz einiger Leuchttürme partout nicht schönreden wollen, sollten auf dem Kaßberg bleiben.

Das Viertel hat den Zweiten Weltkrieg etwas besser als viele andere überlebt. Sehenswert sind die historische Markthalle am Fuß und das einstige Königliche Gymnasium.

Der Helenenhof ist ein schönes Beispiel des durchdachten Sozialwohnungsbaus der frühen 1920er Jahre. In der Ahornstraße findet sich ein Kuriosum: eine wiederaufgebaute Holzkirche, die bis 2017 eine Gaststätte war.

Amerikanische Christen hatten das provisorische Gotteshaus nach dem Krieg gespendet.

Titelfoto: Kristin Schmidt

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