Bühnenversion von "Blutbuch" begeistert im Kleinen Haus: Ein Ich sucht sich selbst
Dresden - Der Roman "Blutbuch" von Kim de l'Horizon ist ein schwieriges Buch über die Suche eines Erzähler-Ichs nach familiärer und sexueller Identität. Das Staatsschauspiel bringt den sperrigen Stoff beeindruckend auf die Bühne, erschütternd, witzig, poetisch und explizit-derb. Kurz: famos. Premiere war am Samstag im Kleinen Haus.

"Blutbuch" ist das literarische Debüt von Kim de l'Horizon aus der Schweiz und entwickelte sich 2022 zum Überraschungserfolg, aus dem Stand mit dem schweizerischen und dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Kim de l'Horizon versteht sich als non-binär, identifiziert sich also als weder weiblich noch männlich. Im autofiktionalen "Blutbuch" schreibt sich Protagonist*in Kim an die eigene Biografie heran, den eigenen Körper und eine dafür noch zu findende Sprache.
Der Text ist zerklüftet zwischen Erinnerungsmonologen, Tagebucheinträgen, Briefen an die demente Großmutter (schweizerisch Großmeer genannt, wie die Mutter Meer heißt) und naturwissenschaftlichen Essays zur leitmotivischen Blutbuche - die Sprache wechselt zwischen Jugendslang, Anglizismen und poetischen Passagen, ist mal fantastisch, mal dilettierend.
Ob das buchpreiswürdig sei, so stritt man. Oder wurde nur das "woke" Thema ausgezeichnet?
"Blutbuch"-Darstellerin suhlt sich halbnackt im Kunstblut

Theater haben sich sofort auf die Vorlage gestürzt, dabei sperrt sich der Text gegen die Bühne, da es keine traditionelle Handlung gibt und die Prosatexte rezitiert werden müssen, was bei Buchverstückungen oft doof ist. Aber: Genau das gibt absolute Freiheit, der Stoff wurde schon als Solo und mit vielen Darstellern inszeniert. Regisseur Simon Werdelis setzt auf ein Duo: Jonas Holupirek und Nihan Kirmanoğlu.
"Liebe....", "Liebe*r..." - diese Briefanrede sprechen beide zu Beginn aus einem Munde. Vor einem Vorhang mit rosa Ornamenten, darauf mag man eine Vulva erkennen, mit Schnurrbart garniert (Bühne und Kostüm: Max Schwidlinski). Bald fällt er, wird für beide zur Spielwiese, in der sie aneinander zerren, wie die zwei Seiten von Kims innerem Ich. Eine Drehung genügt, schon hat der kleine Junge ein Kleid an - Meer und Großmeer zürnen.
Später werden die Spieler zu House-Beats tanzen, sich aufspalten in den nicht-schwulen Mann und seine männlichen Partner beim queeren Dating - angedeutete Blowjobs und Penetrationen a tergo inklusive, oft von Projektionen kreiselnden Blutbuchengeästs ummalt. Kim gräbt tief in die Familiengeschichte, in einem atemberaubenden Solo fabuliert Kirmanoğlu von Vorfahrinnen (Prostituierte, Heilerinnen, Hexen), während sie sich halbnackt im Kunstblut suhlt - durchaus heftig.
Das alles bewegt tief, ist streckenweise sehr lustig und unterhaltsam. Die Regie präsentiert das Thema unaufdringlich, die Spieler powern sich lustvoll und intensiv aus, fantastisch. Stürmischer Applaus, wohlverdient.
Titelfoto: Montage: Sebastian Hoppe, Thomas Türpe