Hausbesuch in der Körperwelten-Werkstatt: Hier werden die Toten für die Nachwelt präpariert
Dresden - Sie polarisieren, erregen Empörung wie Begeisterung, sorgen für Wissenszuwachs, Gänsehaut und Gruselfaktor - die Präparate der Ausstellung "Körperwelten". In fast 30 Jahren haben weltweit über 50 Millionen Menschen die plastinierten menschlichen Körper und Organe aus der Werkstatt von Gunther von Hagens (77) gesehen. Bevor am 6. Mai die neue Anatomieschau "Am Puls der Zeit" in Dresden eröffnet wird, schaute TAG24 im Gubener Plastinarium "Dr. Tod" und seinen Präparatoren über die Schulter.
Der riesige Klinkerbau in der Gubener Uferstraße - direkt an der Neiße - sieht einladend aus. Keine Leichenwagen vorm Eingang, kein Geruch von Verwesung weht über das 30.000 Quadratmeter große Gelände. Gängige Klischees ziehen nicht.
Hinter den Mauern der ehemaligen Hut- und Tuchfabrik arbeitet seit 2006 ein modernes Unternehmen mit 95 Mitarbeitern und einem millionenschweren Jahresumsatz.
Zugegeben: Die Präparat-Produkte sind nicht nach jedermanns Geschmack, aber bei Universitäten weltweit begehrt. Sie nehmen Wartezeiten von bis zu 17 Monaten in Kauf. "2021 haben wir rund 600 Präparate hergestellt - zu 95 Prozent für die medizinische Ausbildung, die restlichen fünf Prozent für unsere insgesamt elf Ausstellungen", erklärt von Hagens' Sohn Rurik (42), der seit der Parkinson-Erkrankung seines Vaters die Geschäfte führt.
Sechs bis acht Verstorbene werden wöchentlich angeliefert. "Insgesamt sind bei uns rund 19.000 Spender registriert, 80 Prozent von ihnen kommen aus Deutschland, elf Prozent aus den USA", so von Hagens.
Auch 1896 Sachsen wollen ihren Körper spenden - weil sie laut Umfrage des Instituts für Platination dem guten Zweck dienen wollen (89 Prozent), ihre Angehörigen von der Grabpflege befreien wollen (53 Prozent), die Beerdigungskosten sparen wollen (31 Prozent) oder ganz einfach von der Plastination begeistert sind (71 Prozent, Mehrfach-Nennungen möglich).
So läuft die Plastination eines Toten ab
Die Plastination beginnt mit der Fixierung - die Verwesung wird durch Formalin-Injektionen gestoppt. Dann werden mit Pinzette, Skalpell und Schere Haut-, Fett- und Bindegewebe entfernt - jedem Besucher des Plastinariums wird die Sicht auf die 14 Arbeitstische aus Edelstahl gewährt, ohne Altersbeschränkung.
Fotos an den Wänden zeigen, wie die Präparate aussehen sollen. Klingt makaber, erinnert aber an Fotos in Gourmet-Küchen, die zeigen, wie das Dessert auf dem Teller angerichtet wird.
Schließlich bestellen die Universitäten via Präparate-Katalog - die Nummer HP 0412 steht für "Torso mit hinterer Bauchwand". Ein Ganzkörper-Plastinat kostet um 80.000 Euro, ein Herz 2000 bis 3000 Euro.
Nach der Präparation werden Gewebewasser und Fettanteile durch Azeton ersetzt - die Chemikalie ist das Einzige, was im Plastinarium riecht. Unter Vakuum wird das Azeton durch flüssigen Kunststoff ersetzt.
Danach wird jede anatomische Struktur mit Nadeln, Draht, Klammern oder Schaumstoff in die richtige Position gebracht und abschließend gehärtet.
In der Plastination eines ganzen Körpers stecken etwa 1500 Arbeitsstunden. Für Florian (33) ist es der Traumjob. Zehn Tage etwa arbeitet der ausgebildete Physiotherapeut an einem Kopfpräparat. "Natürlich habe ich überlegt, ob das ein Job für mich ist. Ich habe erst ein Praktikum absolviert, meine Freundin gefragt - und dann ja gesagt. Ich selbst möchte allerdings beerdigt werden."
Ex-Textilfacharbeiterin Cornelia (60) positioniert mit bis zu 300 Nadeln Strukturen an einem Torso. "Diskussionen über den Job gab's nur mit der Oma. Meine ganze Familie war schon hier und hat geguckt, was ich so mache" - wie jährlich rund 15.000 Besucher.
Wer ist Dr. Gunther von Hagens?
Der Erfinder der Plastination wird 1945 als Gunther Gerhard Liebchen im heutigen Polen geboren. Er wächst im Vogtland mit vier Geschwistern auf.
Eine Bluterkrankheit und wochenlange Klinikaufenthalte wecken den Wunsch, Arzt zu werden. Seine Karriere beginnt am Kreiskrankenhaus Greiz als Hilfspfleger, es folgt 1965 ein Medizinstudium in Jena.
Mit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Tschechoslowakei will Liebchen die DDR verlassen, wird festgenommen und landet in der Vollzugsanstalt Cottbus. Für 40.000 D-Mark kauft ihn die Bundesrepublik frei.
Liebchen beendet sein Medizinstudium 1973 in Lübeck, schreibt an der Uni Heidelberg seine Doktorarbeit. 1975 heiratet er seine Ex-Studienkollegin Cornelia von Hagens.
Als Anatomieassistent kommt er zum ersten Mal mit in Kunststoff eingebauten Präparaten in Berührung. 1977 hält er sein erstes, eigenes Plastinat in der Hand. Er verbessert das Verfahren, gründet 1993 das Institut für Plastination in Heidelberg.
Dessen erste Präparate-Ausstellung findet 1995 in Tokio statt, weltweite Anatomieschauen folgen. Nach Gastprofessuren in China und den USA begründet von Hagens 2006 in Guben die Gubener Plastinate GmbH und das angeschlossene Plastinarium.
Aufgrund der 2008 diagnostizierten Parkinson-Erkrankung führt heute von Hagens' Sohn Rurik Gunnar das Unternehmen.
"Körperwelten"-Ausstellung in Dresden
Zeitenströmung Dresden (Königsbrücker Str. 96)
Ausstellung "Körperwelten - Am Puls der Zeit"
Öffnungszeiten: 6. Mai – 4. September 2022, Montag bis Freitag: 9 bis 18 Uhr; Samstag/Sonntag/Feiertag: 10 bis 18 Uhr, letzter Einlass 17 Uhr
Eintritt: Montag bis Freitag 19/15/13 Euro, Familien 45 Euro, Samstag/Sonntag/Feiertag 21/17/15 Euro, Familien 49 Euro, Gruppentickets 9 bis 15 Euro/Person
Infos/Tickets unter www.koerperwelten.de, Buchung von Zeitfenstern erforderlich.
Plastinarium Guben lädt alle ein
Plastinarium Guben (Uferstraße)
Öffnungszeiten: Freitag bis Sonntag 10-18 Uhr, letzter Einlass 16 Uhr
Eintritt: 12/ermäßigt 10 Euro
Infos unter www.plastinarium.de
Gruppenanmeldungen (ab 20 Personen, auch außerhalb der Öffnungszeiten) unter Tel. 03561/5474382.
Titelfoto: Montage: IMAGO/Eastnews, Holm Helis