Dresdner Wirtschafts-Professor warnt: "Schere zwischen Arm und Reich wird größer"

Dresden - Wirtschaftskrise und hohe Inflation haben unsere Marktwirtschaft zuletzt stark gebeutelt und die Schere zwischen Arm und Reich noch größer werden lassen. Viele Menschen bescheinigen dem System Ungerechtigkeit und Unfähigkeit. Wir sprachen mit Prof. Dr. Alexander Kemnitz (55) von der Professur für VWL, insbesondere Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung, an der TU Dresden, ob unser System an seine Grenzen stößt und ob es bessere Alternativen gäbe?

Dr. Alexander Kemnitz (55) von der Professur für Volkswirtschaftslehre (VWL) an der TU Dresden ist Experte für Wirtschaftspolitik und -forschung.
Dr. Alexander Kemnitz (55) von der Professur für Volkswirtschaftslehre (VWL) an der TU Dresden ist Experte für Wirtschaftspolitik und -forschung.  © PR

TAG24: Prof. Kemnitz, gleich zu Beginn die eigentliche Frage: Hat der Kapitalismus ausgedient?

Prof. Kemnitz: Kurz gesagt: Nein! Allein de facto deshalb nicht, weil viele Länder auf absehbare Zeit sich kapitalistischer Methoden bedienen werden. Da ist sicher dann auch China dazuzuzählen. Ob er ausgedient haben sollte, auf einer moralischen Ebene, ist eine andere Frage.

TAG24: Was macht Kapitalismus eigentlich aus?

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Prof. Kemnitz: In der öffentlichen Wahrnehmung geht es um die Orientierung auf Privateigentum, das Streben nach Gewinn oder individuelle Vorteile.

TAG24: Hat sich der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten verändert?

Prof. Kemnitz: Ja, natürlich hat er das. Da hat es historische Entwicklungen gegeben, Globalisierung per se, dann natürlich der Wegbruch des sozialistischen oder kommunistischen Wirtschaftssystem der Sowjetunion und DDR und die Orientierung Chinas auf kapitalistische Methoden. Unternehmen können dadurch internationaler agieren und besser ausweichen, wenn man zum Beispiel an Steuervermeidungsoptionen und Steuerwettbewerb denkt. Das gab es vorher nicht so stark.

Prof. Kemnitz: "Kapitalismus ist mit Ungleichheiten verbunden"

Einmal arm, immer arm? Ein offensichtlich armer Mann hält einen Vorrat Brennholz in den Händen.
Einmal arm, immer arm? Ein offensichtlich armer Mann hält einen Vorrat Brennholz in den Händen.  © 123rf.com/taylon

TAG24: Märkte leben davon, dass man Geld ausgibt. Aber die Menschen teilen sich immer häufiger Dinge. Ist das eine Gefahr für den Kapitalismus?

Prof. Kemnitz: Sie spielen auf den Bereich Sharing Economy an. Natürlich wird das immer stärker, aus verschiedenen Gründen - es ist technisch einfacher, Sachen zu teilen, vielleicht wollen manche Leute auch moralischer handeln, vielleicht ist es aber auch eine individuelle Reaktion darauf, dass Dinge teurer werden.

In kleinen Gruppen funktioniert so ein Tausch untereinander. Aber wie kriegen wir das in einer Stadt oder einem Land hin? Sobald der Tausch groß wird, brauchen wir jemanden, der das koordiniert, und dann ist das eine Frage von Leistung und Gegenleistung und dann sind wir bei Geschäftsmodellen und am Ende wieder bei kapitalistischen Modellen.

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TAG24: Das Grundproblem des Kapitalismus war schon immer die Schere zwischen Arm und Reich.

Prof. Kemnitz: Ja, Kapitalismus ist mit Ungleichheiten verbunden. Wenn wir bei Märkten auf Preise setzen, hat das natürlich einen Einfluss darauf, wie viel sich jemand leisten kann. Aber das Grundproblem ist aus meiner Sicht noch ein ganz anderes.

Eigennutz auf der einen Seite, Gemeinwohl auf der anderen

Bitterarm oder unermesslich reich - Spaltpilz der Gesellschaft: Während über 400 Menschen in Sachsen Einkommensmillionäre sind, müssen viele andere jeden Euro sprichwörtlich zweimal umdrehen, um über die Runden zu kommen.
Bitterarm oder unermesslich reich - Spaltpilz der Gesellschaft: Während über 400 Menschen in Sachsen Einkommensmillionäre sind, müssen viele andere jeden Euro sprichwörtlich zweimal umdrehen, um über die Runden zu kommen.  © 123rf.com/miljanzivkovic

TAG24: Welches?

Prof. Kemnitz: Was ist Eigennutz auf der einen Seite und wie verhält sich das zum Gemeinwohl? Da haben wir ganz offenbare Probleme. Gerade wenn wir von Kapitalismus reden, haben wir auch große Unternehmen mit Marktmacht, die Ausweichmöglichkeiten nutzen und Regierungen sowie Kunden gegeneinander ausspielen können.

Und wir haben beispielsweise in Finanzkrisen gesehen, dass Banken nach dem Motto "too big to fail" Strategien fahren können, die dem Gemeinwohl nicht mehr dienen. Aber das fängt beim Einzelnen schon an. Wenn ich zum Beispiel an Umweltfragen denke: Wie viel fahre ich mit dem Auto und wie viel CO₂-Ausstoß ist damit verbunden? Das wäge ich irgendwie ab.

Aber dass meine Entscheidung auch andere Leute betrifft, ist nur in geringem Maße bedacht. Das ist ein grundlegendes Problem. Da kann man sich natürlich fragen: Prägt das System die Wertvorstellung der Leute oder ist es eher andersrum? Aber dann sind wir fast schon bei Marx.

TAG24: Die einen haben viel, die anderen wenig. Sollte da nicht der Staat eingreifen und umverteilen?

Prof. Kemnitz: Definitiv! Das ist gar keine Frage. Ich meine, die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer und da muss man natürlich etwas tun. Zum Beispiel, indem man versucht, Chancen zu schaffen, Startunterschiede durch das Bildungssystem abzufedern oder auch Einkommen umzuverteilen. Und das geschieht ja auch.

TAG24: Aber ist das ausreichend? Oder braucht es eine schärfere Reichensteuer?

Prof. Kemnitz: Über das Ausmaß kann man sich unterhalten. Ich persönlich habe da durchaus Sympathien dafür. Man muss nur aufpassen, dass es am Ende nicht nur ein Symbol ist. Denn für Unternehmen, aber auch Personen, die reich genug sind, gibt es eben die Möglichkeiten, Vermögen und Gelder dort anzusiedeln, wo die Besteuerung gering ist. Wir können das zwar hoch besteuern, aber wenn alles Geld außer Landes geschafft würde, bringt das nicht viel.

Prof. Kemnitz: "Was ist fair?"

Streuner oder Schoßhündchen? Oft bestimmt die Herkunft über die Lebensverhältnisse - bei Hunden wie bei Menschen.
Streuner oder Schoßhündchen? Oft bestimmt die Herkunft über die Lebensverhältnisse - bei Hunden wie bei Menschen.  © 123rf.com/lubov62

TAG24: Also müsste man global zusammenarbeiten.

Prof. Kemnitz: Genau. Die ganze Frage der Besteuerung und Koordination ist ein ganz großer Punkt. Und da gibt es ein paar Fortschritte, aber noch nicht genug.

TAG24: Was müsste passieren?

Prof. Kemnitz: Es ist einfach eine Sache der Absprache. Wir müssen aus der Situation rauskommen, dass Unternehmen Steuervorteile nutzen können, indem man die Gewinne, die daraus entstehen, zwischen den Staaten so verteilt, dass es auch im Interesse aller ist.

TAG24: Gibt es denn fairere bzw. moralisch bessere Marktwirtschaften?

Prof. Kemnitz: Was ist fair? Und welchen Anspruch hat die Gesellschaft an die Leistung des Einzelnen? Man muss schauen, dass man Vorteile von Marktwirtschaft und Gerechtigkeit irgendwie miteinander kombiniert. Das ist ja auch zumindest der Anspruch, den unser Gesellschaftssystem an sich hat. Ob es das immer einlöst, ist eine andere Frage. Aber fundamental andere Systeme, die wirklich besser wären, kenne ich nicht. Das ist eher ein Austarieren. In anderen Ländern gelingt der Ausgleich vielleicht aktuell besser, aber es ist nicht fundamental anders.

TAG24: Also kommen wir um den Kapitalismus nicht drumherum?

Prof. Kemnitz: Wir kommen um Märkte nicht herum. Und da haben wir die kapitalistischen Nebenfolgen immer mit dabei.

TAG24: Würde ein Grundeinkommen das System gerechter machen?

Prof. Kemnitz: Es würde es auf der einen Seite gerechter im Sinne von egalitärer machen, aber die andere Seite ist, ob es finanzierbar ist. Da gibt es große Zweifel. Es klingt natürlich schön, wenn für jeden die Grundbedürfnisse gedeckt wären. Aber wo kommt das Geld dafür her?

Wenn wir dann von Steuersätzen von 70 bis 80 Prozent auf Arbeitseinkommen reden, und das kommt oft in Studien raus, die sich um die Finanzierungsfrage kümmern, dann wird es kritisch zu unterstellen, dass die Arbeitsanreize nicht zurückgehen.

Altersarmut bekämpfen: Besonders alleinstehende Rentner müssen sich durch die Inflation jetzt radikal einschränken. Manche von ihnen suchen in Mülleimern etwa nach Leergut, um so an ein paar Cent für Brot zu kommen.
Altersarmut bekämpfen: Besonders alleinstehende Rentner müssen sich durch die Inflation jetzt radikal einschränken. Manche von ihnen suchen in Mülleimern etwa nach Leergut, um so an ein paar Cent für Brot zu kommen.  © Sebastian Kahnert/dpa
Alarmierend: Jedes fünfte Kind wächst in Armut auf.
Alarmierend: Jedes fünfte Kind wächst in Armut auf.  © picture alliance / dpa

Tausende arme Kinder, aber Hunderte Millionäre

Etwa 70.000 Familien in Sachsen sind arm oder armutsgefährdet und jedes fünfte Kind muss in Armut aufwachsen. Zu diesem Ergebnis kam kürzlich die Große Anfrage der Linksfraktion "Lebenslagen von Familien in Sachsen" für das Jahr 2022.

Darüber hinaus bescheinigt eine Kleine Anfrage, dass 2022 16.335 Menschen auf Grundsicherung im Alter angewiesen waren. Eine Steigerung von fast 30 Prozent zum Vorjahr.

Im Gegensatz dazu hatten, laut Auskunft des Finanzministeriums, im Jahr 2021 441 Menschen im Freistaat Einkünfte von mehr als 999.999 Euro, sind also sogenannte Einkommensmillionäre.

Titelfoto: PR

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