Leipzigerin radelt alleine 10.000 Kilometer den "Eisernen Vorhang" entlang

Leipzig - Wenn eine Frau allein mit Rad und Zelt eine monatelange Reise unternimmt, darf sie durchaus als verwegen gelten. Wenn sie dann auch noch in menschenleerer unbekannter Wildnis übernachtet, wird sie nicht selten als verrückt bezeichnet. Die Leipziger Schriftstellerin Rebecca Maria Salentin (44) ist über Europas längsten Radweg gestrampelt. Er führt entlang des ehemaligen "Eisernen Vorhangs" von der Türkei bis an die Nordküste Norwegens. Trotz unmenschlicher Strapazen und Qualen wurde es aufgrund der vielen ergreifenden zwischenmenschlichen Begegnungen zur besten Reise ihres Lebens.

In den griechischen Bergen hörte der Schotterweg plötzlich auf und wurde zum Kraxelpfad.
In den griechischen Bergen hörte der Schotterweg plötzlich auf und wurde zum Kraxelpfad.  © privat

Der Gaumen immerhin findet allerorten Freuden. Sei es im Süden der Schopska-Salat oder Tarator. Rebecca Salentin: "Wenn man schwitzt, gibt es nichts Besseres als diese kalte Gurkensuppe." Im Baltikum war sie von Pfifferlingen, Blaubeeren und Räucherfisch begeistert. "Und Zimtschnecken! Versuchen Sie in Finnland unbedingt eine Zimtschnecke!"

Wer sich längs durch Europa naschen möchte, liegt mit dem "Iron Curtain Trail" vielleicht nicht falsch. Möchte man zumindest meinen. Entlang der ehemaligen Grenze zwischen den Systemblöcken führt er über knapp 10.000 Kilometer durch 20 Länder. Der einstige Stacheldrahtstreifen ist meist naturbelassen. Fernab großer Städte begegnet man noch den einfachen Menschen vom Lande.

Dass dieser Weg alles andere als ein Zuckerschlecken wird, wurde der nicht sonderlich durchtrainierten Dame spätestens im griechischen Gebirge bewusst.

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Salentin: "Der offizielle Radweg entpuppte sich als steiler und steiniger Kraxelpfad, den vielleicht Bergziegen bewältigen."

Sie zerrte ihr Rad mit den vier wuchtigen Fahrradtaschen über den Kamm. Unten im Dorf stieß sie dann auf offene Münder und Kopfschütteln - diesen Weg meiden die Einheimischen. Für die nächste ganz ähnliche Etappe warnte man sie immerhin eindringlich vor den Bären.

Wenn man schwitzt, ist die kalte Gurkensuppe eine Wohltat.
Wenn man schwitzt, ist die kalte Gurkensuppe eine Wohltat.  © Alleko

Angst vor dem Einschlafen ließ sich nur langsam ablegen

Auch an der ehemals deutsch-deutschen Grenze stieß die Schriftstellerin auf Mark erschütternde Holperpisten.
Auch an der ehemals deutsch-deutschen Grenze stieß die Schriftstellerin auf Mark erschütternde Holperpisten.  © privat

In Russland hätte sie eine Machete benötigt, um den Radweg freizuschlagen. Er führte durch Sümpfe und tiefen Sand.

"Ich war schockiert, wie ein von der EU geförderter und beworbener Weg so schlecht ausgebaut ist. Selbst in Deutschland!"

Am sogenannten Grünen Band besteht der Trail teils aus Lochbetonplatten, daneben Schilder mit der Warnung vor Minen. Wenn die Radlerin nicht ihre Bandscheiben kräftig durchzumischen wünschte, musste sie kilometerweit schieben.

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Entschädigung bieten dafür die sich abwechselnden bezaubernden und atemberaubenden Naturlandschaften, von den Wildkräutern zwischen Steinen an der türkischen Grenze oder die Kurische Nehrung in Litauen.

Salentin: "Im Süden sah ich riesige Schwärme von Störchen. Und in den Wäldern des Nordens wimmelte es von Rentieren."

Wer sich Einsamkeit wünscht, wird an vielen Stellen des Radweges fündig. Oft besteht er aus nahezu menschenleeren Gegenden. Und Wildnis. Dann wird einer alleinreisenden Frau bewusst: "Wenn dir hier etwas passiert, findet dich keiner."

An die Ängste beim Einschlafen hat sie sich einigermaßen gewöhnt. Und doch gibt es Nächte, in denen sie bei einem noch so leisen Rascheln oder Knacken aufschreckt.

"Mach Freunde, nicht nur Kilometer!"

Ein Camp in einer einsamen Gegend (hier in Estland) - manchmal wird es einem schon etwas mulmig.
Ein Camp in einer einsamen Gegend (hier in Estland) - manchmal wird es einem schon etwas mulmig.  © privat

Die Ängste beziehen sich nicht nur auf die kantigen Hauer eines Wildschweines oder einen trotteligen Hirsch, der stolpernd auf das Zelt purzelt.

Eines zwingt sich die 44-Jährige auszublenden: "Machen wir uns nichts vor: Die größte Gefahr für eine Alleinreisende ist immer noch der Mann."

Zum Glück nicht jeder. Einem serbischen Radfahrer wäre sie gerne bereits vor der Tour begegnet. Er lehrte die Mitteleuropäerin nämlich, wie man wildgewordene Straßen- und Hirtenhunde entschärft. Entsprechende Stresserlebnisse hatte Rebecca bereits in den ersten Tagen: "Man strampelt um sein Leben und hat das Gefühl, man kommt nicht vom Fleck." Einer der Köter zerriss gar ihre Radtasche.

Der Rat des Südslawen: "Handle entgegen deinem Fluchtinstinkt und halte an. Dann lässt der Jagdinstinkt der Hunde sofort nach, sie verlieren ihr Interesse."

Auch wenn dies zunächst große Überwindung kostet, es wirkt. Als der Autorin in Russland das Phänomen kläffender und zähnefletschender Rudel erneut begegnete, wusste sie sich zu helfen.

Überhaupt sind es die zwischenmenschlichen Begegnungen, welche das Reisen bereichern. Rebecca Salentin wählt bewusst das Motto: mach Freunde, nicht nur Kilometer! So wurde sie überall von Herzlichkeit und Gastfreundschaft überwältigt.

Angefangen in der Türkei, wo man in fast jedem Teehaus einen Cay ausgegeben bekommt. Bis nach Russland, wo es der Gastgeber als grobe Beleidigung empfindet, wenn man selbst etwas zahlen möchte. Auch in Deutschland fand sie Hilfsbereitschaft, großes Interesse und offene Ohren.

Newa-Brücke in St. Petersburg - das Visum für Russland erhielt Rebecca Salentin erst während der Reise.
Newa-Brücke in St. Petersburg - das Visum für Russland erhielt Rebecca Salentin erst während der Reise.  © IMAGO/Zoonar
Der Iron-Curtain-Trail entlang der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West - 10.000 Kilometer Einsamkeit.
Der Iron-Curtain-Trail entlang der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West - 10.000 Kilometer Einsamkeit.  © Bikeline Verlag

Leipzigerin plant bereits weitere Reisen: "Habe Blut geleckt!"

Den vollständigen Reisebericht des waghalsigen Abenteuers hat Rebecca Maria Salentin in ihrem Buch "Iron Woman" aufgezeichnet (Verlag Voland & Quist, 392 Seiten, 22 Euro).
Den vollständigen Reisebericht des waghalsigen Abenteuers hat Rebecca Maria Salentin in ihrem Buch "Iron Woman" aufgezeichnet (Verlag Voland & Quist, 392 Seiten, 22 Euro).  © privat

Ihren persönlichen Höhepunkt erlebte die Leipzigerin bereits in Bulgarien. Im Dorf hatte sich in Windeseile verbreitet, welch seltsamer Gast an der alten Schule zeltet. Morgens, sie saß noch im Schlafanzug in der Sonne, stellte sich ein Damenchor auf und widmete ihr eine traditionelle Volksweise.

Unvergessen auch die junge Estin, welche sie vor der Übernachtung an einem gruseligen Friedhof bewahrte, die Reisende mit heim nahm und die Sauna anwarf. Es war bereits kühler.

Überhaupt das Wetter. Dass die Klamotten bei tagelangem Regen nicht trocken werden, kennt jeder Camper. In der Türkei erlebte Rebecca Salentin im Mai 2022 eine ungewöhnliche Hitzewelle. An der polnischen Ostsee hatte sie mit fiesem Gegen- und Seitenwind zu kämpfen.

Das war jedoch nichts im Vergleich zu den mit Regen und Schnee gemischten arktischen Nordstürmen in Skandinavien. Körper und Seele flehten gemeinschaftlich um das Aufgeben der Reise. Allein der eiserne Wille ließ die Pedalen weiter kurbeln. Bis zur Barentssee.

Erst Wochen nach den Strapazen erfuhr die Kämpferin, dass vor ihr erst ein einziger Mensch diesen Iron Curtain Trail vollständig bewältigt hatte. Rebecca Salentin ist die erste Frau. "Ich darf mich also Iron Woman nennen". Trotz der überstandenen Strapazen und Ängste plant sie weitere Abenteuer dieser Art. "Ich habe Blut geleckt."

Info: Die Termine, wann die Autorin ganz in Ihrer Nähe von Entzücken und Erschöpfung erzählt, finden Sie auf der Seite rebecca-salentin.de

Titelfoto: Bildmontage: privat, Bikeline Verlag

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