Leipziger Thomaner fühlen sich übergangen und manipuliert: Krach um neuen Thomaskantor eskaliert

Leipzig - Misstöne im altehrwürdigen Thomaner-Chor. Einige Sänger protestieren gegen den neuen Thomaskantor, obwohl der noch gar nicht da ist. Die Auswahlkommission zeigt sich über den Vorgang irritiert.

Der Thomanerchor. Hier unter der Leitung des noch amtierenden Kantors Gotthold Schwarz (68, r.).
Der Thomanerchor. Hier unter der Leitung des noch amtierenden Kantors Gotthold Schwarz (68, r.).  © epd/Peter Endig

Eigentlich war alles klar wie eine schön gesungene Bach-Kantate: Der Schweizer Musiker und Musikpädagoge Andreas Reize (45) tritt im September sein Amt an.

Aktuell ist Gotthold Schwarz (68) Thomaskantor. Seine Tätigkeit an der Spitze des 809 Jahre alten Chors endet am 30. Juni.

Der Zwickauer Sänger und Dirigent hatte das Amt seit 2015 zunächst als Interim, seit 2016 auch gewählt als Nachfolger des erkrankten Georg Christoph Biller (65) inne.

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Der Protest gegen Schwarz' Nachfolger ist in einem offenen Brief der Obernschaft (also alle Elft- und Zwölftklässler) niedergeschrieben. Die Vertretung der Thomaner fühlt sich übergangen und "manipuliert", ist zu lesen.

Unklar bleibt bislang allerdings, ob damit für alle Choristen gesprochen wird und ob der Protest innerhalb des Chores überhaupt abgestimmt wurde.

Das gilt auch für eine verbreitete WhatsApp-Nachricht, in der steht: "Das Auswahlverfahren war und ist ein Skandal. David Timm hätte gewählt werden müssen, das wollten auch die Thomasser."

Timm ist Leipziger Universitätsmusikdirektor. Thomasser nennen sich die Thomaner und Ehemalige selbst.

Der Neue: Andreas Reize (45).
Der Neue: Andreas Reize (45).  © Remo Buess Photography

Katholik bricht protestantische Tradition

Der Leipziger Universitätsmusikdirektor David Timm (51).
Der Leipziger Universitätsmusikdirektor David Timm (51).  © epd/Jens Schulze

Dabei votierte die fünfköpfige Auswahlkommission bereits im November für den Schweizer, am 18. Dezember entschied der Stadtrat. Reize wäre der 18. Thomaskantor nach Johann Sebastian Bach (1685–1750).

Von ebendieser Auswahlkommission gibt es nun auch einen offenen Brief. Adressiert ist er an Leipzigs OB Burkhard Jung (63, SPD).

Die Mitglieder zeigen sich betroffen und erklären: "Mit großer Sorge nehmen wir wahr, dass unsere aufwendige, vom Anfang bis zum Ende sehr gut strukturierte Arbeit diskreditiert und das Ergebnis prinzipiell infrage gestellt wird."

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Es bestehe die Gefahr eines Rückzugs von Reize.

Die Ursachen für den kleinen Choraufstand könnten aus moderner Sicht recht banal sein: Reize ist katholisch, der Chor seit gut 500 Jahre streng protestantisch.

Kommentar: Thomaner in Moll

Von Gerhard Jakob

TAG24-Redakteur Gerhard Jakob.
TAG24-Redakteur Gerhard Jakob.  © Holm Röhner

Seit mehr als 800 Jahren jubilieren die Thomaner zum Frommen Gottes und der Christenheit. Der Aufstand im Chor der Sänger kommt zu einer Zeit, in der das sächsische Kultur-Juwel bei Gott schon genug Probleme hat:

Die immer schwieriger werdende Nachwuchssuche, die coronabedingten Auftrittsausfälle – und jetzt bricht auch noch die offene Feldschlacht um den künftigen Kantor aus.

Geschlossene Briefe, ein offener Brief, WhatsApp-Tiraden – wenn das der alte Sebastian Bach erlebt hätte, er hätte vermutlich sofort eine Wut-Motette komponiert.

In den vielen Jahrhunderten ihres Bestehens haben die Thomaner alle Katastrophen ihrer Zeit überstanden. Sollte der berühmte Chor nun wegen einer Personalie den Bach runtergehen?

So schlimm wird's schon nicht kommen. Aber die Gefahr ist durchaus groß, dass der gewählte Kandidat jetzt von sich aus den Bettel hinwirft. Ob deswegen dann aber der Favorit der Rebellen zum Zuge käme, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Wie auch immer der Aufstand der "Thomasser" ausgehen wird: Ein solcher Streit kennt nur Verlierer und versetzt diesen großartigen Chor schon jetzt für lange Zeit in Moll-Stimmung. Schade, dass die Sache so eskalieren musste. Aktuelle Probleme hat das Land schon genug.

Titelfoto: Bildmontage / epd/Peter Endig / Remo Buess Photography

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