Berliner Senatorin Kipping: Sowas haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt

Berlin - So hatte sich Katja Kipping (44, Linke) ihren Start als Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales nicht vorgestellt. Kaum im Amt muss sie eine der größten humanitären Katastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg managen. Seit Wochen erreichen Tausende Ukrainer die Bundeshauptstadt, in der Hoffnung, hier vor Putins Bomben endlich Schutz zu finden. In einem bewegenden Interview sprach Kipping mit TAG24 über ihre Erfahrungen an der Berliner-Flüchtlings-Front.

(Das Interview wurde am 18. März geführt)

Berlins Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Katja Kipping (44, Linke), nahm sich in diesen stressigen Tagen Zeit, um mit TAG24 zu sprechen.
Berlins Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Katja Kipping (44, Linke), nahm sich in diesen stressigen Tagen Zeit, um mit TAG24 zu sprechen.  © Eric Münch

TAG24: Frau Kipping, die schrecklichen Bilder des Ukraine-Konfliktes werden in Berlin greifbar. Täglich erreichen neue Flüchtlinge die Stadt. Wie ist die Lage?

Katja Kipping: Am Donnerstag (24. Februar 2022) hat Putin den Krieg begonnen, am Freitag haben wir uns entschieden, als Land in Verantwortung zu gehen und zu sagen: Wenn Geflüchtete hier ankommen, werden wir alles tun, um sie gut unterbringen. Und zwar alle, die das brauchen.

Von da an ist jeder Tag für meine Verwaltung, aber auch für die Ehrenamtlichen ein Wettlauf, neue Unterkünfte zu erschießen. Und das während steigender Flüchtlingszahlen.

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Jeden Tag kommen Zehntausende an, wir bringen über Landesstrukturen 1000 bis 1500 unter. Die anderen fahren weiter oder werden privat untergebracht. Wir wissen zudem, dass ganz viele privat untergebracht sind. Als unser Landesamt die Online-Terminvergabe zur Registrierung startete, haben sich 28.000 sofort gemeldet. Und wir rechnen damit, dass die Zahlen deutlich steigen.

Wir haben jetzt unter Hochdruck neue Unterkünfte erschlossen, müssen aber auch die Registrierung für Zehntausende auf den Weg bringen und das alles in einer Situation, in der wir den Bund erstmal wachrütteln mussten. Der ist jetzt wachgeworden. Die große Herausforderung: Es geht um richtig große Zahlen, die man schnell und sicher geleiten muss, und zugleich hat da jeder, der aus dem Bus oder dem Zug aussteigt, ein Schicksal, bei dem man heulen könnte.

Das passiert, wenn die Ukrainer Berlin erreichen

Auf dem Berliner Hauptbahnhof kommen täglich Tausende Ukrainer an. Helfer versorgen sie mit etwas zu trinken und Essen.
Auf dem Berliner Hauptbahnhof kommen täglich Tausende Ukrainer an. Helfer versorgen sie mit etwas zu trinken und Essen.  © Bernd von Jutrczenka/dpa

TAG24: Wie kann man sich das vorstellen, die Leute landen hier am Bahnhof und werden erstmal in Berlin registriert?

Kipping: Die Menschen reisen erstmal visafrei ein. Am Hauptbahnhof gibt es dann Essen, warme Suppe, Tasse Tee, Erste Hilfe und es gibt zwei Wärmezelte. Diejenigen, die weiterfahren, kommen dann zum Ticketing der Deutschen Bahn und erhalten ein kostenloses Ticket. Dann gibt es einige, die privat abgeholt werden von Verwandten und Bekannten.

Die Anderen werden mit Bussen zu Unterkünften oder zum Ankunftszentrum gefahren. Diese Registrierung für jene, die schon da sind, läuft nach und nach, weil wir davon abhängig waren, dass der Bund ein verbindliches Verteilsystem aufbaut. Wir waren ja bisher auf eine doppelte Freiwilligkeit angewiesen: Dass die Bundesländer bei uns freie Plätze anmelden und zum anderen, dass die Leute auch in diese Bundesländer gehen. Ich hoffe, dass jetzt zum Wochenende dieses neue Verteilsystem des Bundes startet.

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Berlin hat in Tegel ein Ankunftszentrum Ukraine auf die Beine gestellt, das am Wochenende startet. Dort rechnen wir mit 10.000 Menschen pro Tag, von denen die Stammdaten aufgenommen und dann das Verteilungssystem FREE entscheidet, in welches Bundesland sie kommen: Die Menschen, die in Berlin bleiben - die durchlaufen dann die gesamte Registrierung.

Kipping: Einige Unterschiede zur Flüchtlings-Situation 2015

Wie die ankommenden Ukraine-Flüchtlinge oftmals aussehen? Genau so!
Wie die ankommenden Ukraine-Flüchtlinge oftmals aussehen? Genau so!  © Annette Riedl/dpa

TAG24: Wieso ist der Bund nach 2015 so schlecht auf die Situation vorbereitet?

Kipping: Es gibt einige Unterschiede zu der Situation 2015. Ab der ukrainischen Grenze gibt es einen sicheren Fluchtweg. Das heißt, es gibt einen viel kürzeren Vorlauf als beim Syrienkrieg. Die Zahlen sind deshalb auch deutlich höher.

Wir als Berlin sind Tor zu Europa, also die erste Anlaufstation. Jeder kennt Berlin, es liegt geografisch näher als alles andere. Und es kommen jetzt andere Gruppen, Ältere, Frauen mit Kinder, die ihren Hasen im Arm haben. Auf den syrischen Fluchtrouten haben es Behinderte kaum geschafft, jetzt kommen ganze Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen mit Bussen aus der Ukraine an.

Außerdem mussten wir den Bund erst wecken. Ich habe das Gefühl, dass er jetzt wach ist. Ich merke aber auch, dass manches noch nicht so durchdacht ist, was wir dann umsetzen müssen. Das hat uns viel Energie und Kraft gekostet.

Berlin musste ja nicht nur die akuten Probleme in Berlin lösen, sondern zugleich bundesweit immer wieder sagen: "Leute, das, was wir in Berlin erleben, das wird demnächst das ganze Land erleben und darauf müssen wir uns jetzt einstellen."

Ankunft der Ukraine-Flüchtlinge: "Wir sind erst ganz am Anfang"

Aufsteller in diversen Sprachen sowie einfach verständliche Hinweisschilder sollen den ankommenden Flüchtlingen den Weg durch Berlins zentralen Bahnhof erleichtern.
Aufsteller in diversen Sprachen sowie einfach verständliche Hinweisschilder sollen den ankommenden Flüchtlingen den Weg durch Berlins zentralen Bahnhof erleichtern.  © TAG24

TAG24: Sie haben ja schon in der Vergangenheit ganz oft betont, dass der Bund die Lage komplett unterschätzt hat. Hat die Berlin als Bundeshauptstadt und damit Deutschland die Situation überhaupt im Griff?

Kipping: Ja natürlich, aber was heißt schon "im Griff haben". Wir stehen am Beginn der größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Und das faktisch ohne Vorwarnung. Es kann jederzeit einen sprunghaften Anstieg geben, eine Verdopplung oder eine Verzehnfachung des Faktors.

In so einer Situation gibt es immer mal Momente, wo es einen Rückstau gibt. Wo etwas entwickelt oder aufgesetzt wird, was danach nachgebessert werden muss.

Ich meine, wenn Berlin sich hätte auf diesen Krieg vorbereiten wollen, dann hätten wir für die ersten Tage des Krieges über Jahre hinweg 20.000 Plätze in Flüchtlingsunterkünfte immer unbenutzt freihalten müssen. Sämtliche Medien und der Rechnungshof hätten uns für diese Verschwendung von Steuergeldern in den vergangenen Jahren filetiert.

Und nochmal: Wir sind erst ganz am Anfang. Bald geht es darum, die Schulbildung abzusichern, Arbeitszugang, die Anerkennung der Berufsabschlüsse muss schnell und unbürokratisch abgesichert werden. Da baut sich also ganz, ganz viel auf. Und nicht zu vergessen: einige Menschen kommen mit Haustieren!

"Wer der Meinung ist, vertrete es vor seinem Gewissen oder seinem Gott!"

Häufig bringen die Ukrainer auch ihre geliebten Haustiere mit.
Häufig bringen die Ukrainer auch ihre geliebten Haustiere mit.  © Annette Riedl/dpa

TAG24: Geht das Einreisen mit den Haustieren denn so einfach?

Kipping: Wenn ich streng nach Veterinärsgesetz handeln würde, müsste ich die alle in Quarantäne stecken. Kann man aber Kindern, deren Vater jetzt im Schützengraben liegt, die ihre Heimat verlassen mussten und einen Hasen dabei haben, jetzt auch noch den Hasen wegnehmen? Wer der Meinung ist, man solle das machen, der trete hervor und vertrete es vor seinem Gewissen oder seinem Gott! Wir hatten Situationen, wo wir einfach nach gesunden Menschenverstand agiert haben.

TAG24: Wenn man sich die Bilder aus der Ukraine ansieht, dann wird's wohl keine so schnelle Rückkehr geben können. Wie kann die Integration funktionieren?

Kipping: Von denjenigen, mit denen ich gesprochen habe, wollen ganz viele hier auch arbeiten. Volodii aus Odessa zum Beispiel sagte: "Ich will hier nicht mit den Händen im Schoß sitzen, ich will hier was machen." Er kannte sogar den Begriff Arbeitserlaubnis schon (lacht).

Deswegen glaube ich, es gibt einen großen Wunsch, sich einzubringen. Davon ganz abgesehen sind Mütter teilweise mit zwei, drei, vier Kindern geflohen, die Kinder brauchen Betätigung. Also Zugang zur Schule ist da ganz wichtig. Das ist genau so der Punkt: Man läuft los, um die Mengen zu organisieren und zugleich weiß man, dass da eine riesige Aufgabe aus uns zukommt. Ob die Geflüchteten jetzt länger hierbleiben oder gleich zurückgehen, hängt ja vom Kriegsverlauf ab.

TAG24: Kann man irgendwie abschätzen, wie viele Leute noch kommen werden oder aus Ländern wie Polen "nachrücken"?

Kipping: Verantwortungsvoll handeln heißt möglichst auf das Schlimmste vorbereitet sein und zugleich nie seinen Optimismus zu verlieren. Wenn alles so weitergeht und Putin weiterhin so erbarmungslos gegen Zivilisten vorgeht, rechnet die UNHCR mit 10 Millionen Ukraine-Geflüchteten.

Wir wissen, dass Polen eine Menge aufgenommen hat, aber wir wissen nicht, wann Polen sagt: "Es geht nicht mehr." Und ob die Menschen dauerhaft in Westeuropa bleiben, hängt von Faktoren ab, auf die wir null Einfluss haben.

Private Hilfe ist ein Bedürfnis der Menschen, meint Senatorin Katja Kipping

Dank der vielen freiwilligen Helfer gibt es für die vielen ankommenden Kinder schon am Berliner Hbf ein kleines bisschen Freude.
Dank der vielen freiwilligen Helfer gibt es für die vielen ankommenden Kinder schon am Berliner Hbf ein kleines bisschen Freude.  © Carsten Koall/dpa

TAG24: Zurück zur Hilfsbereitschaft. Vorhin meinten Sie, es wären ganz andere Menschen, die hier herkommen. Liegt das daran, dass jetzt Mütter mit Kindern und Hasen kommen und nicht alleinstehende Männer?

Kipping: Bei der letzten Fluchtbewegung war es ja so, dass wir ganz viel über vulnerable Gruppen gesprochen haben und die in den Unterkünften eine Minderheit waren, weswegen es Schutzräume für Frauen und Kinder bedurfte.

Jetzt ist es ja so, dass die Geflüchteten, die wir unterbringen, fast nur aus schutzbedürftigen - also vulnerablen Gruppen bestehen: Menschen mit Behinderung, queere Menschen, Frauen mit Kindern, die allein reisen, Alte. Und das liegt - zum Glück! - daran, dass es sichere Fluchtwege gibt, wenn sie es bis zur ukrainischen Grenze geschafft haben. Ab da gibt es einen sicheren Weg, in Polen und Deutschland werden Sie in den Bahnen kostenlos befördert. Das war beim Syrienkrieg anders.

TAG24: Wieso ist man eigentlich immer noch so abhängig von Privatpersonen, die sich mit selbstgebastelten Plakaten an den Hauptbahnhof stellen und Menschen in ihrer eigenen Wohnung aufnehmen?

Kipping: Das Ehrenamt und die private Hilfe ist ein Bedürfnis der Menschen. Was wir jetzt geschafft haben, haben wir alle zusammen geschafft. Man muss aber auch sehen: Einen Tag nach Kriegsbeginn hat der Krisenstab mit mir angefangen, unter Hochdruck große Unterkünfte zu erschließen. Das ist keine Arbeit, die mit der Kamera gut abzufilmen ist, aber unglaublich wichtig war.

Wir haben in den letzten drei Wochen 10.000 Unterkünfte geschaffen. Wir haben bloß eine Ahnung, wie viele Leute privat untergebracht sind. 28.000 haben sich sofort bei den Online-Regristrierterminen gemeldet. Man kann also davon ausgehen, dass 20- bis 30.000 Menschen privat untergebracht sind. Wir hätten also 50.000 Unterkünfte in Vorhand halten müssen, ganz Berlin hat aber bis jetzt nur 22.000 Plätze in Flüchtlingsunterkünften - und da mussten meine Vorgängerin und ich um jede Flüchtlingsheimeröffnung kämpfen!

Wenn wir gesagt hätten, wir halten 20.000 Unterkünfte vor, wir wären in der Luft zerrissen worden! Das hätte niemand verstanden. Eine Lehre aus der Zukunft daraus ist, dass wir eine deutlich höher Reserve an freien Plätzen brauchen. Weil, wir leben in einer Zeit voller Krisen.

"Es muss einen klaren Schnitt geben: Keine Relativierungen mehr, was Putins Verbrechen anbelangt."

Die Linke sollte ihre Lehren aus den vergangenen Wochen ziehen, meint Katja Kipping.
Die Linke sollte ihre Lehren aus den vergangenen Wochen ziehen, meint Katja Kipping.  © Peter Kneffel/dpa

TAG24: Woher stammen denn dann jetzt die 10.000 Unterkünfte?

Kipping: Das sind zum Beispiel ehemalige Wohncontainer, die nun wieder reaktiviert werden. Außerdem haben Kirchen und Clubs ihre Räume zur Verfügung gestellt, nachts mussten auch Hostels angemietet werden. Wir haben aber auch Gebäude, die mal ein Hostel waren, und die wir jetzt als Unterkunft nutzen.

TAG24: Die Linke war stets Russland-offen und Putin-freundlich: Wie hat sich Ihr Verhältnis und das Ihrer Partei zu Russland seit dem Beginn des Krieges verändert?

Kipping: Ich bin ja von Putins Propagandagruppe Russia Today als Agentin der Atlantikbrücke und NATO-freundlichste Abgeordnete beschimpft worden, was ich schon bemerkenswert fand bei jemanden, der so antimilitaristisch ist wie ich…

Mit dem Angriffskrieg und dem aggressiven Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung gibt Putin sein stärksten und schärfsten Kritikern recht. Und die Linke muss daraus Lehren ziehen. Es muss einen klaren Schnitt geben: Keine Relativierungen mehr, was Putins Verbrechen anbelangt.

Zum Abschluss noch ein Gedanke: Es gab bereits Brandanschläge auf russische Schulen, Kinder mit russischsprachigen Eltern werden auf dem Schulhof angegriffen. Lasst uns jetzt nicht den Hass, den Putin sät, an den Menschen auslassen, die zufällig dieselbe Sprache wie er sprechen. Niemand, wirklich niemand kann etwas dafür, dass er dieselbe Sprache spricht, wie der Aggressor Putin.

Titelfoto: Eric Münch

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