30 Jahre nach Wiedervereinigung: Sachsen hinkt Westen hinterher - wie lange noch?

Dresden - Zu Beginn des neuen Jahres kündigt die neue Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz (63, SPD) Großes an. Zum Beispiel mehr Rente, mehr Mindestlohn, mehr Respekt. Her damit! Genau davon brauchen Zehntausende Sachsen mehr! Denn hierzulande ist bei Weitem nicht alles Gold, was glänzt. In puncto Löhne/Gehälter, Renten und Kaufkraft stehen der Freistaat und einige Landkreise im Vergleich zu anderen Bundesländern oder Regionen echt mies da. Hier dazu Zahlen, Analysen und ein Interview.

Blick von der Altstadtbrücke auf die Altstadt von Görlitz. Die Stadt und der Landkreis können bei ihrer Entwicklung hoffen, dass sie von den Kohle-Strukturhilfen profitieren.
Blick von der Altstadtbrücke auf die Altstadt von Görlitz. Die Stadt und der Landkreis können bei ihrer Entwicklung hoffen, dass sie von den Kohle-Strukturhilfen profitieren.  © dpa/Daniel Schäfer

Es sind zwei Seiten einer Medaille: Sachsens Wirtschaft steht im Verhältnis zu den anderen Ostländern, dem Saarland oder Bremen gut da. Der hiesige Arbeitsmarkt präsentiert sich robust.

Zwischen Zittau und Zwickau gibt es gegenwärtig so viele offene Stellen wie noch nie, berichten Kammern und Verbände. Leuchttürme wie VW, Porsche, BMW, Siemens und GlobalFoundries strahlen über Grenzen hinweg.

Auf der Kehrseite steht: Sachsen ist nach wie vor ein Billiglohnland, lange Werkbank, Schlusslicht in Deutschland mit den meisten Niedriglohnempfängern. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag der Verdienst im April 2018 hier bei 611.000 Beschäftigungsverhältnissen (mehr als jedem dritten!) unter zwölf Euro pro Stunde.

Sie ist Sachsens Beste in ihrem Beruf
Sachsen Sie ist Sachsens Beste in ihrem Beruf

Laut einer aktuellen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung besitzt der Erzgebirgskreis das bundesweit niedrigste Lohnniveau. 43,2 Prozent der Erzgebirger verdienen demnach weniger als 2284 Euro brutto im Monat.

Diese Summe gilt als Schwelle des unteren Entgeltbereiches. Alles darunter zählt als Geringverdienst.

Sachsens Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Dulig wirbt für höheren Mindestlohn

2022 wird die Kaufkraft in Sachsen laut der aktuellen GfK-Studie überdurchschnittlich wachsen. Von der Pro-Kopf-Kaufkraft der Starnberger und Münchner können die meisten hierzulande aber nur träumen.
2022 wird die Kaufkraft in Sachsen laut der aktuellen GfK-Studie überdurchschnittlich wachsen. Von der Pro-Kopf-Kaufkraft der Starnberger und Münchner können die meisten hierzulande aber nur träumen.  © GfK

Im Keller dieses Rankings finden sich außerdem als Vorletzter Görlitz (über 42,5 Prozent) und der Vogtlandkreis (40,2 Prozent) auf Platz fünf von hinten. On top in Wolfsburg arbeiten lediglich 6,4 Prozent der Beschäftigung für solche Mini-Löhne.

Besonders kleine Löhne werden laut WSI im Gastgewerbe, der Leiharbeit, der Gebäudereinigung und der Land- und Forstwirtschaft gezahlt.

Bei den Arbeitszeiten sieht es auch mies aus: Im Schnitt wird in der Lausitz, im Leipziger Land und im Musikwinkel eine halbe Stunde pro Woche mehr geackert als im Rest der Republik.

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Das Armutsrisiko ist hierzulande nicht niedrig. Während die Deutschland-Quote bei 16,1 Prozent liegt, rangiert Sachsen mit 17,9 Prozent im hinteren Mittelfeld. Der Freistaat musste dabei 2020 u. a. Brandenburg (14,5 Prozent), Rheinland-Pfalz (15,9 Prozent), dem Saarland (16,9 Prozent) und Thüringen (17,7 Prozent) den Vortritt lassen. Bayern (11,6 Prozent) führt - wie im Fußball - die Tabelle an.

In puncto Kaufkraft konnte der Landkreis Görlitz 2021 nach Jahren die Rote Laterne im Bundesvergleich abgeben. Laut Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) stehen den Menschen dort pro Kopf 20.481 Euro für Einkaufen, Wohnen, Freizeit und Sparen zur Verfügung. Damit verbesserte sich Görlitz um zwei Plätze auf Rang 398 unter allen deutschen Kreisen.

"Der neue Ostbeauftragte der Bundesregierung hat viel zu tun. Ziel muss es sein, dass bis 2025 die Löhne zwischen Ost und West deutlich angeglichen sind", meint Sören Pellman (44), Leipziger Bundestagsabgeordnete von der Partei Die Linke.

Sachsens Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Dulig (47, SPD) wirbt für die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde ab 1. Oktober 2022: "Es muss endlich gleiches Recht für alle gelten: bei Arbeitszeiten, Entlohnung und Arbeitsbedingungen."

Unterschiede werden bleiben

Joachim Ragnitz (61) vom ifo Institut in Dresden erforscht die Entwicklung der Ostdeutschen Wirtschaft. Seine Meinung ist gefragt - nicht nur in der Politik.
Joachim Ragnitz (61) vom ifo Institut in Dresden erforscht die Entwicklung der Ostdeutschen Wirtschaft. Seine Meinung ist gefragt - nicht nur in der Politik.  © Thomas Türpe

Hat Sachsen eine Chance, jemals "Westniveau" zu erreichen? Prof. Joachim Ragnitz (61) hat diese Frage schon oft gehört als stellvertretender Leiter der Niederlassung Dresden des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Er findet, dass diese Frage in keiner Hinsicht weiterhilft.

"Die Einkommen - aus welchen Quellen auch immer - sind im gesamten Bundesgebiet sehr ungleich verteilt: In strukturschwächeren, häufig ländlichen Regionen sind sie niedriger, in strukturstärkeren, zumeist städtischen Regionen sind sie höher. Das wird zum Teil durch unterschiedliche Lebenshaltungskosten ausgeglichen, denn wo die Einkommen niedrig sind, können regional ansässige Dienstleistungsunternehmen und insbesondere Vermieter auch nur niedrige Preise fordern", sagt Ragnitz.

Der Experte weiß, dass auch preisbereinigt Einkommensunterschiede bestehen bleiben. "Diese sind aber deutlich schwächer ausgeprägt", erklärt er und beschreibt diese Unterschiede zudem als "erstaunlich stabil".

Hohe Löhne (und daraus aufwachsende Renten) findet man dort, wo die leistungsfähigen Unternehmen angesiedelt sind - etwa in Bayern oder Baden-Württemberg. Aber nicht in Sachsen.

Ärmere Gegenden wird es immer geben

Die Abwanderung in ländlichen Räumen wird sich bis 2040 fortsetzen, sagen Demografie-Experten voraus.
Die Abwanderung in ländlichen Räumen wird sich bis 2040 fortsetzen, sagen Demografie-Experten voraus.  © imago images/BildFunkMV

Joachim Ragnitz: "Die Einkommen werden in Sachsen wegen des zunehmenden Arbeitskräftemangels zwar überdurchschnittlich stark ansteigen, aber man muss damit rechnen, dass eine vollständige Angleichung in überschaubaren Zeiträumen nicht erreicht wird."

Von diesem Plus in der Lohntüte werden auch nicht alle Beschäftigten und Regionen gleichermaßen profitieren können, warnt der ifo-Forscher.

Ärmere Landstriche wird es wohl länger noch geben. Ein rein ostdeutsches Phänomen ist das allerdings nicht. Eifel, Hunsrück, Franken sind seit jeher strukturschwach.

"Wenn Unternehmen sich nicht in bestimmten Regionen niederlassen wollen, hat das Gründe, die die Politik auch nicht beheben kann: periphere Lage, ungünstige Infrastruktur, Abwanderung von Arbeitskräften, fehlende Forschungseinrichtungen und dergleichen mehr. Und das wird sich auch in Zukunft gar nicht oder nur annähernd ändern lassen, denn wenn man die schwächeren Regionen besonders unterstützt, leiden darunter die stärkeren Regionen. Das Gesamtergebnis kann dann sogar negativ sein", so Joachim Ragnitz.

Oft droht ein Alter in Armut

Zehntausende Senioren in Sachsen beziehen Sozialhilfe, weil ihre Rente zum Leben nicht reicht. Dazu kommen viele, die aus Scham und Unwissenheit gar nicht erst aufs Amt gehen.
Zehntausende Senioren in Sachsen beziehen Sozialhilfe, weil ihre Rente zum Leben nicht reicht. Dazu kommen viele, die aus Scham und Unwissenheit gar nicht erst aufs Amt gehen.  © imago/imagebroker

Der Untergang der DDR, der Zusammenbruch der Wirtschaft, aber auch die Politik der niedrigen Löhne nach dem Mauerfall werfen lange Schatten. Zehntausende haben Sachsen verlassen und sind der Arbeit hinterhergezogen. Jene, die hier blieben und jetzt Rente beziehen, müssen sich oft nun aus wenig viel machen.

26,7 Prozent der Gesamtbevölkerung in Sachsen gehörten 2020 zur "Generation 65+". Das waren 1.081.766 Frauen und Männer. Wobei die Damen mit 57,2 Prozent eine deutliche Übermacht darstellten. Die Zahl der Alten Semester wird in Zukunft weiter ansteigen.

Prognosen haben für Sachsen eine Einwohnerzahl von 3,81 bis 3,95 Millionen im Jahr 2035 vorausberechnet. Ü65 werden dann bereits etwa 30 Prozent der Bevölkerung sein. Etwa fünf Prozent werden sogar 85 und mehr Lebensjahre vorweisen können.

Gesellschaft und Wirtschaft müssen sich jetzt fit machen für die Zeit, wenn die Jahrgänge der Babyboomer in Ruhestand gehen. So ist absehbar, dass der Pflegebedarf mit der wachsenden Zahl der Senioren zunehmen wird - aber auch die Nachfrage nach seniorenfreundlichen Wohnformen, Mobilitätshilfen, Begegnungsstätten. Entsprechende Angebote sowie Einrichtungen zu erschaffen scheint leicht - im Verhältnis zum Lösen des Lastenausgleichs zwischen den Generationen, der zu finden ist.

Sachsen: Viertgeringste Rente!

Die Rente ist in Sachsen gering. Nur in drei anderen Bundesländern gibt es weniger Geld im Alter.
Die Rente ist in Sachsen gering. Nur in drei anderen Bundesländern gibt es weniger Geld im Alter.  © 123RF/stas71

Die durchschnittliche Altersrente (gesetzliche Bruttobezüge) betrug laut Rentenatlas 2021 in Sachsen 1358 Euro - nur noch in Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen-Anhalt wurde weniger ausgezahlt.

Die Altersarmut wächst rasant. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes Sachsen stieg die Zahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung von 24.682 im Jahr 2010 auf 30.735 im Jahr 2020. Dies entspricht einer Steigerung um 24,5 Prozent.

Der Sozialverband VdK Sachsen schätzt ein, dass sich dieser Trend voraussichtlich auch weiter fortsetzen wird. Sprecherin Franziska Mosig: "Der Grund liegt nach unserer Auffassung in den zahlreichen gebrochenen Erwerbsbiografien der Menschen, welche nach der Wende viele Jahre der Arbeitslosigkeit beziehungsweise eines geringen Einkommens in ihren Biografien haben." Pflegende Angehörige treiben außerdem die stetig steigenden Eigenanteile bei der ambulanten wie stationären Pflege in den Ruin.

Der VdK-Landesverbandsvorsitzende Horst Wehner (69) und sein Team fordern deshalb von der Sozialpolitik, dass die Eigenanteile in der Pflege im ambulanten Bereich begrenzt werden und eine Absenkung der Mindestversicherungszeit in der Grundrente kommt. "Es muss bereits einen Anspruch auf den Erhalt des Grundrentenzuschlages geben, wenn 30 Jahre Grundrentenzeiten vorliegen", so der Sozialverband.

Darüber hinaus kämpft der Verband für Reformen bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Stichwort: Freibeträge). Auch beim Thema Mindestlohn mischt sich der VdK laut ein: 13 Euro sollten es seiner Meinung nach sein.

Titelfoto: Montage: dpa/Daniel Schäfer, GfK, Thomas Türpe

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