ALS: Das schwierige Leben mit dem schleichenden Tod

Dresden - Es ist ein wohl aussichtsloser Kampf, den Universitätsprofessor Thomas Günther (60) kämpft. Denn die Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, lähmt nach und nach den ganzen Körper.

Mit einem Spendenlauf möchten ALS-Patient Thomas Günther (60), seine Frau Edeltraud (55, li.) und Tochter Raphaela (25, re.) Geld für die psychologische Betreuung sammeln.
Mit einem Spendenlauf möchten ALS-Patient Thomas Günther (60), seine Frau Edeltraud (55, li.) und Tochter Raphaela (25, re.) Geld für die psychologische Betreuung sammeln.  © Andreas Weihs

Ohne künstliche Beatmung droht irgendwann der Tod. Eine Diagnose, die schwer auf den Schultern der Familie lastet. Ein virtueller Spendenlauf soll ihnen und anderen ALS-Betroffenen helfen.

Es war im Frühjahr 2018, als der Dresdner plötzlich 20 Kilo Gewicht verlor und seine Körperhaltung immer krummer wurde. Nach zahlreichen Arztbesuchen und Untersuchungen stand im August 2018 dann die Diagnose fest: ALS. Ein Schock!

"Jeder von uns hat die Diagnose in einer anderen Weise aufgenommen und verarbeitet", beschreibt seine Tochter Raphaela Günther (25). Thomas Günther sagt: "Ich bin sehr dankbar, dass ich ein erfülltes Leben hatte. Ich bin Christ und nehme die Krankheit so an, wie sie ist".

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An Amyotropher Lateralsklerose erkranken pro Jahr nur drei bis fünf von 100.000 Menschen. Bei der seltenen Krankheit funktionieren aus noch nicht ausreichend geklärten Gründen die sogenannten Motoneuronen (Nervenzellen) nicht mehr, die für die Steuerung der Motorik zuständig sind, also für die Bewegung von Armen und Beinen, das Schlucken und Atmen.

Lähmung durch ALS führt meist zu Atemschwäche und dann zum Tod

Ein halbes Jahr nach der Diagnose konnte Thomas Günther (li.) noch ohne große Einschränkungen mit seiner Familie Winterurlaub machen.
Ein halbes Jahr nach der Diagnose konnte Thomas Günther (li.) noch ohne große Einschränkungen mit seiner Familie Winterurlaub machen.  © privat

Dadurch kommt es zu einer fortschreitenden Lähmung, was nach einem Krankheitsverlauf von wenigen Jahren meist aufgrund einer Atemschwäche zum Tod führt. Die Betroffenen verlieren bei vollem Bewusstsein in kurzer Zeit ihre Autonomie und sind dann von fremder Hilfe vollständig abhängig.

"Eine Kraftminderung ist ein erstes, aber unspezifisches Zeichen. Es geht zum Beispiel damit los, dass man den Fuß nicht mehr anheben kann. Die meisten denken dann, das ist eine Nervenentzündung oder hat mit einem Bandscheibenvorfall zu tun", erklärt Dr. René Günther (37), Leiter der Spezialambulanz für Motoneuronenerkrankungen an der Uniklinik Dresden. Er behandelt auch Thomas Günther (nicht verwandt).

"Leider fehlen bisher zielgerichtete Therapien. Es gab schon Hunderte Studien mit Medikamenten, die man probiert hat", sagt René Günther, der die Hoffnung nicht aufgibt. Denn neue "Gentherapien" und Medikamente befänden sich in der wissenschaftlichen Prüfung.

Thomas Günther möchte trotz ALS weiterhin lehren

Dr. René Günther (35) leitet die Spezialambulanz für Motoneuronenerkrankungen.
Dr. René Günther (35) leitet die Spezialambulanz für Motoneuronenerkrankungen.  © Andreas Weihs

Inzwischen hat sich auch die körperliche Verfassung von Thomas Günther zusehends verschlechtert: Er kann nicht mehr laufen, braucht einen elektrischen Rollstuhl, sechs seiner Finger sind gelähmt und die Zwerchfellmuskulatur ist beeinträchtigt. Nachts muss er deshalb beatmet werden.

Trotzdem ist der Inhaber des Lehrstuhls für Betriebliches Rechnungswesen/Controlling an der TU Dresden noch voll berufstätig und möchte auch in Zukunft weiter lehren. Denn geistig ist er fit.

Hilfe bekommt er dabei von einer Assistenzkraft, die ihm beim Schreiben von Texten und Mails sowie beim Transport zu Terminen unterstützt. Wenn er irgendwann nicht mehr sprechen kann, will er mit einem sogenannten Eyetracking-System (siehe Kasten) weiter Vorlesungen halten. Dafür ließ er rechtzeitig seine Stimme synthetisieren.

"Wir versuchen so viel Normalität wie möglich zu erhalten und die Krankheit in unser Leben zu integrieren", sagt Sohn Timon Günther (23). Ein großer Kraftakt.

Denn zur Organisation und Pflege des Erkrankten kommt der ständige Kampf mit der Krankenkasse. "Die Genehmigungen dauern oft lange und man muss sich trotz vorhandener Diagnose rechtfertigen, warum die Hilfsmittel benötigt werden", ärgert sich Ehefrau Edeltraud Günther (55), selbst Hochschullehrerin für Nachhaltigkeitsmanagement an der TU Dresden.

"Da die Krankheit kontinuierlich fortschreitet, kommen die Genehmigungen immer zu spät oder müssen mit Vorlauf beantragt werden, wobei dort oft die Rückmeldung kommt, dass es derzeit medizinisch nicht notwendig sei."

Thomas Günther hofft derweil "noch so viele gemeinsame Stunden wie es möglich ist, in Bewegung und in der Natur mit meiner Familie und meinen Freunden zu verbringen". So geht er nach wie vor seinem liebsten Hobby, dem Pilzesammeln nach, sucht die Hutträger nun eben vom Rollstuhl aus am Wegesrand.

Angehörige sind für jede Unterstützung dankbar

Die Psychologinnen Dr. Katharina Linse (36, li.) und Elisa Aust (31, re.) leiten die ALS-Angehörigengruppe.
Die Psychologinnen Dr. Katharina Linse (36, li.) und Elisa Aust (31, re.) leiten die ALS-Angehörigengruppe.  © Christian Juppe

Die Krankheit wirft die Betroffenen, aber insbesondere auch ihre Angehörigen aus der Bahn. "Man kann die Zukunft nicht gemeinsam so verbringen, wie man sich das vorgestellt hatte. Es ist belastend, zusehen zu müssen, wie es dem geliebten Menschen körperlich immer schlechter geht. Dazu kommen die Pflege und die organisatorischen Aufgaben. Das sind extreme Anforderungen", erklärt Psychologin Dr. Katharina Linse (36).

Von "aufopferungsvoller Fürsorge auf Kosten der eigenen Bedürfnisse und Gesundheit" spricht Kollegin Elisa Aust (31). Gemeinsam leiten sie die ALS-Angehörigengruppe, die die Spezialambulanz für Motoneuronerkrankungen am Dresdner Uniklinikum 2017 ins Leben rief.

"Der Austausch mit anderen Angehörigen, die in einer ähnlichen Situation stecken, ist sehr bereichernd", findet Edeltraud Günther. "Wir können Tipps zu Hilfsmitteln austauschen, Fragen stellen, wie andere die Pflege in ihren Tagesablauf integrieren, aber auch Hinweise bekommen, wie und wo man einen schönen Urlaub mit Rollstuhl verbringen kann." Außerdem geben die Psychologinnen Strategien an die Hand, wie sich Angehörige Freiräume schaffen und mit negativen Emotionen wie Wut und Trauer umgehen können.

Doch anders als zum Beispiel bei Krebspatienten zahlen die Krankenkassen nicht für die psychosoziale Unterstützung. Deshalb sollen mindestens 25.000 Euro über einen virtuellen Spendenlauf gesammelt werden. Die Idee dazu hatte Raphaela Günther (25), Tochter von ALS-Patient Thomas Günther. Inspiriert wurde sie von Bruder Timon (23), der Ultramarathons läuft.

So können bis 17. Oktober alle unter #ALSbewegtuns mitmachen - laufend, wandernd, schwimmend, im Rollstuhl, im Boot oder mit dem Fahrrad, völlig egal! Die Strecke online unter www.als-spendenlauf.de registrieren und einen Betrag festlegen, der pro Kilometer gespendet werden soll.

Laufend, fahrend, walkend: Hauptsache #ALSbewegtuns.
Laufend, fahrend, walkend: Hauptsache #ALSbewegtuns.  © Andreas Weihs

Ein Blick sagt alles - der Technik sei Dank!

Markus Joos (51) gründete "Interactive Minds", um Menschen mit ALS eine weitere Teilhabe am Leben zu ermöglichen.
Markus Joos (51) gründete "Interactive Minds", um Menschen mit ALS eine weitere Teilhabe am Leben zu ermöglichen.  © Christian Juppe

"Stellen Sie sich vor, Sie können sich nicht bewegen, irgendjemand macht etwas mit Ihnen und Sie können nichts sagen", beginnt Markus Joos (51) zu erklären. "Man ist dann komplett hilflos."

Deswegen sei für ALS-Patienten die Kommunikation das Wichtigste, sagt der Unternehmer. Das erste Mal Kontakt mit der Krankheit hatte er vor über 18 Jahren. Damals arbeitete er am Lehrstuhl für Ingenieurpsychologie und angewandte Kognitionsforschung an der TU Dresden an einem EU-Projekt zu Blickbewegungen.

"Da habe ich mir gedacht, damit muss man auch was Praktisches für die Menschen machen." Kurzerhand gründete er die "Interactive Minds Dresden GmbH" und entwickelt seitdem Kommunikationshilfsmittel für ALS-Patienten, sogenannte Eyetracking-Systeme.

Dabei handelt es sich um Bildschirm-basierte Computersysteme mit einer spezialisierten Kamera, die mit sehr hoher Auflösung und Infrarottechnik funktioniert. Diese erfasst die Blickbewegungen der Anwender, die auf diese Weise mit ihren Augen "kommunizieren, ins Internet gehen, den Rollstuhl und ihr Umfeld steuern können", beschreibt Joos. Die Benutzung erfordere nur etwas Übung.

Mit den Eyetracking-Systemen kann man nur mit den Augen zum Beispiel eine Tastatur steuern.
Mit den Eyetracking-Systemen kann man nur mit den Augen zum Beispiel eine Tastatur steuern.  © Christian Juppe

"Das Ungewohnte ist, man schaut wohin und plötzlich passiert was. Da muss man sich am Anfang zwingen, nicht einfach irgendwohin zu sehen."

Titelfoto: Andreas Weihs

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