Als erstes Gebiet in Deutschland könnte die Königsbrücker Heide diesen Status bekommen

Königsbrück - Viel schneller als von den Experten erwartet, hat sich die Natur ein riesiges Stück Sachsen zurückerobert und zu einem wahren Schatz umgestaltet.

Umweltminister Wolfram Günther (49, Grüne) beantragte ein internationales Zertifikat für die Wildnis.
Umweltminister Wolfram Günther (49, Grüne) beantragte ein internationales Zertifikat für die Wildnis.  © Steffen Füssel

Auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz in der Königsbrücker Heide, vor 30 Jahren eher eine Wüstenlandschaft, entstand eine Vielzahl unterschiedlichster Biotope.

Zum Tag der Artenvielfalt am vergangenen Montag kündigte Umweltminister Wolfram Günther (49, Grüne) an, dass das Gelände zum international anerkannten Wildnisgebiet werden soll - es wäre das erste in Deutschland.

Keine Straßen, keine Dörfer, keine menschlichen Gesetze - seit fast 30 Jahren ließ man hier Natur einfach Natur sein. Jagen, Angeln, Forst- und Landwirtschaft wurden eingestellt. Seither entstanden ungezähmte, ursprüngliche und märchenhaft schöne Landschaften.

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Die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) hat in Europa bisher nur wenige Wildnisgebiete als solche zertifiziert - etwa den Schweizer Nationalpark oder den Nationalpark Val Grande (Oberitalien). In diese Liga könnte die Heide demnächst aufsteigen.

Bereits 1996 Regeln für ein Naturschutzgebiet festgelegt

Dreißig Kilometer nordöstlich von Dresden beginnt die Wildnis. Das über 7000 Hektar große Schutzgebiet erstreckt sich bis nach Brandenburg.
Dreißig Kilometer nordöstlich von Dresden beginnt die Wildnis. Das über 7000 Hektar große Schutzgebiet erstreckt sich bis nach Brandenburg.  © 123RF/lesniewski

Rückblende: Bereits 1907 ließ das Königreich Sachsen drei Dörfer und 400 Leute umsiedeln, um den Truppenübungsplatz zu schaffen. Die Wehrmacht schickte 1938 weitere 1800 Einwohner weg.

Ab 1947 übernahmen die Sowjets, zeitweise waren hier 30.000 Soldaten stationiert. Durch den nahezu ununterbrochenen Ausbildungsbetrieb kam es zu wiederkehrenden und verheerenden Waldbränden, die Vegetations- und Bodendecke wurde großflächig zerstört.

Ab 1992 übernahm der Freistaat Sachsen die über 7000 Hektar geschundener Erde - mit Panzer-, Schieß- und Landebahnen sowie vielen Militärbauten, die abgerissen wurden. Das ganze Gebiet war mit Kampfmitteln und Altlasten verseucht, musste aufwendig saniert werden.

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Bereits 1996 legte man die Regeln für ein Naturschutzgebiet (NSG) fest. Doch dann überraschte die Natur die Experten mit ihrem enormen Tempo.

Die Dinge kamen anders

Die langschnabelige Bekassine findet hier einen Lebensraum wie er ihrer Natur entspricht.
Die langschnabelige Bekassine findet hier einen Lebensraum wie er ihrer Natur entspricht.  © imago/imagebroker

Jürgen Stein, Leiter der NSG-Verwaltung Königsbrücker Heide: "Wissenschaftler und Naturschützer gingen in Übereinstimmung mit gängigen Lehrbuchmeinungen davon aus, dass sich zunächst Pionierwälder aus Birke, Espe und Kiefer ansiedeln.

Man nahm an, dass Jahrzehnte vergehen würden, ehe sich Übergangs- und Schlusswaldstadien aus anspruchsvolleren Baumarten ausprägen könnten. Es kam jedoch anders!"

Offenbar hatten die Fachleute ihre Berechnungen auch ohne den Eichelhäher gemacht, der hier inzwischen mit 300 Brutpaaren beheimatet ist. Denn der vorlaute Eichenpflanzer brachte schon bald Trauben- und Stieleiche ins Reservat ("Hähersaat").

Doch genauso schnell siedelten sich auch Weiden, Linden, Buchen und Ahorn an, wenig später Vogelkirsche, Wildbirne oder Eberesche.

Wolfsrudel kann sich freuen

Der Biberpfad ist eine der thematischen Routen. Nach Ankunft des Wolfes in der Heide wurde der Bestand der Nager auf ein Zehntel reduziert.
Der Biberpfad ist eine der thematischen Routen. Nach Ankunft des Wolfes in der Heide wurde der Bestand der Nager auf ein Zehntel reduziert.  © Bildmontage: imago stock&people/imagebroker

Nahezu einmalig für ein Naturschutzgebiet ist die Vielfalt von trockenen und feuchten Lebensräumen. Wälder gibt es in allen Mischungsformen, hinzu kommen Magerrasen und Zwergstrauchheiden, Staudenfluren, Dünen, aber auch Weichholzauen, Sümpfe, Moore und viele natürliche Gewässer - etwa die Pulsnitz mit ihren Nebenarmen.

Für die über 5600 Hektar große Kernzone gilt der Schutzzweck "Natur Natur sein lassen" nahezu unbeschränkt. Sturmholz bleibt liegen, auch Pilz- oder Borkenkäferbefall wird hingenommen.

Rothirsche (Verbiss) und Biber (Vernässung), neben dem Eichelhäher die beiden wichtigsten Gestalter im Revier, werden ebenso wenig bejagt wie Wildschweine oder Waschbären. Über den prall gefüllten Gabentisch freut sich dafür das ortsansässige Wolfsrudel.

Bundesweite Bedeutung hat die Königsbrücker Heide bereits als Heimat äußerst seltener Käfer- und Falterarten, die in Kulturlandschaften kaum noch zu finden sind.

Zertifizierung könnte Ende August erfolgen

Seit 2011 ist in der Königsbrücker Heide ein Wolfsrudel mit acht bis zwölf Tieren heimisch geworden - Rehe stehen auf der Speisekarte ganz oben.
Seit 2011 ist in der Königsbrücker Heide ein Wolfsrudel mit acht bis zwölf Tieren heimisch geworden - Rehe stehen auf der Speisekarte ganz oben.  © Sachsenforst

Aber auch Fischotter, Bekassine und Ziegenmelker - alle auf der Roten Liste für gefährdete Arten - haben hier ihr neues Zuhause erobert. Minister Günther: "Wenn wir die Königsbrücker Heide als Wildnisgebiet ausweisen, geben wir unzähligen Arten eine Lebensversicherung. Zugleich lernen wir hier viel Neues über biologische Prozesse."

Der Antrag für die internationale Anerkennung durch die IUCN wurde im Januar gestellt, die Kriterien für das Zertifikat werden eigentlich schon jetzt erfüllt. Wanderern und Radfahrern ist es bereits untersagt, die gekennzeichneten Wege zu verlassen. Wegen der noch immer schlummernden Kampfmittel ist dies ohnehin geboten.

Um Störungen durch den Menschen fernzuhalten, wird weiter auf sanften Tourismus gesetzt: geführte Wanderungen zu verschiedenen Themen und Busführungen über die eher holprigen Wege.

Weil durch den internationalen Status noch mehr Aufmerksamkeit auf das Gebiet gelenkt wird, sind zu den bestehenden Besucherpfaden (z. B. Biberpfad, Heidewaldpfad) noch weitere in Planung.

Wenn alles klappt, erfolgt die Zertifizierung Ende August während einer Fachtagung in Königsbrück. Dort sollen auch die Pläne für ein "Haus der Wildnis" vorgestellt werden - ein Informations- und Besucherzentrum als Begegnungs- und Bildungsstätte. Noch wird in Königsbrück diskutiert, an welcher Stelle die Acht-Millionen-Investition errichtet werden soll.

Titelfoto: Bildmontage: Sachsenforst/Steffen Füssel

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