"Keinen Alltagsrassismus gegen alte weiße Männer": So kurios feierte Sachsens Landtag Geburtstag

Dresden – Ein umstrittener Redner, ein halbvoller Saal, ein händchenhaltender Kurt Biedenkopf – der Festakt zum 30. Jahrestag des Freistaates Sachsens war eine ganz und gar ungewöhnliche Feier.

Arnold Vaatz (65, CDU).
Arnold Vaatz (65, CDU).  © Ove Landgraf

Ganz am Ende langt Arnold Vaatz (65, CDU) dann doch noch richtig zu. "Haben wir noch die Freiheit von 1990?", fragt er am Samstagvormittag rhetorisch in die Runde, begleitet von frenetischem Beifall der AfD

Bis dahin hatte sich der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und heutige Dresdner Bundestagsabgeordnete mit einem Exkurs in die sächsische Geschichte vor 30 Jahren begnügt. War er doch damals mit den Mitstreitern der Friedlichen Revolution von 1989 maßgeblich an der Neubildung des Freistaates Sachsen beteiligt und an der Organisation des Aufbaus der Regierungsstrukturen für die Zeit nach der ersten Landtagswahl im Herbst 1990.

Nun aber, im Herbst 2020, ist er gefühlt auf dem Weg ins neurechte Lager, beschimpft Polizisten und Medien und wagte heikle historische Vergleiche der jetzigen Situation mit dem Ende der DDR. 

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Genau darum fehlt auch die Hälfte des Parlaments: Grüne, SPD und Linke bleiben dem Festakt demonstrativ fern. Selbst alle grünen und roten Minister sind abwesend! Vaatz genügt den Erwartungen seiner Kritiker: Er warnt vor einem angeblichen "öffentlichen Konformitätsdruck" und einem "Alltagsrassismus" gegen den schon sprichwörtlichen "alten weißen Mann". 

Standing Ovations für Arnold Vaatz

Michael Kretschmer (45, CDU).
Michael Kretschmer (45, CDU).  © Ove Landgraf

"Haben wir noch die Freiheit von 1990?", fragt er nochmals und fügt sofort Zweifel an: "… wenn Leute ihren Job verlieren, weil sie diese oder jene Meinung sagen" und "… wenn man aufpassen muss, mit wem man gesehen wird". Es müsse doch möglich sein zum Beispiel über den Einsatz von Kernenergie oder die saubere Trennung zwischen Asyl- und Einwanderungspolitik zu streiten – ohne gleich an den Pranger gestellt zu werden.

"Wir haben vor 30 Jahren ein wunderbares Kapitel der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit aufgeschlagen. Sorgen wir dafür, dass es nicht wieder zugeschlagen wird." Er erntet stehende Ovationen.

Zuvor hatte sich Ministerpräsident Michael Kretschmer (45, CDU) demonstrativ hinter Vaatz gestellt.

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Er selbst sei in diesem Moment eigentlich auf der zentralen Einheitsfeier der Länder in Potsdam, so Kretschmer. Aber weil er es "unfair" findet, wie mit Vaatz in den vergangenen Wochen umgegangen wurde, sei er in Dresden geblieben.

Dann mahnt er: "Alle politische Bildung wäre vergebens, wenn wir uns nicht mehr zuhören, wenn wir uns, nur weil einer eine andere politische Meinung hat, wegdrehen. Wir müssen es aushalten", sagte er an die Adresse der abwesenden Parlamentarier. Er zum Beispiel habe Vaatz‘ Rede vorab von diesem zugeschickt bekommen und stimme nach der Lektüre mit vielen Aussagen nicht überein.

Viele Gäste im Sächsischen Landtag

Von Ingrid Biedenkopf gab es immer wieder Streicheleinheiten für ihren Mann Kurt.
Von Ingrid Biedenkopf gab es immer wieder Streicheleinheiten für ihren Mann Kurt.  © Ove Landgraf

Aber er werde Vaatz doch nicht korrigieren. "Wo kommen wir hin, wenn wir uns gegenseitig sagen, was wir nicht mehr hören wollen?!" Anschließend richtete der MP deutliche Worte an die anwesende AfD. 

Sie spalte, würdige andere herab und treibe die Eskalation voran. Er frage sich angesichts der DDR-Biografie vieler AfDler: "Warum stehen Sie nicht auf, wenn bekennende Rechtsextremisten wie Kalbitz und Höcke den Schulterschluss mit Neonazis suchen?"

Ausdrückliches Lob hingegen – auch von Vaatz – gab es mehrfach für den anwesenden ersten Ministerpräsidenten des vor 30 Jahren neugegründeten Landes Sachsen, Kurt Biedenkopf (90). Das Ehepaar Kurt und Ingrid (89) Biedenkopf hatte auf der Regierungsbank Platz genommen. Händchenhaltend; bei Lob für "König Kurt" gab es von Gattin Ingrid immer wieder Streicheleinheiten.

Die leeren Reihen der fehlenden Abgeordneten wurden mit Gästen gefüllt, die sonst auf der Tribüne Platz gefunden hätten: Unter anderen der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière (66, CDU) und die DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz (70, Grüne), Frank Neubert (67), Martin Böttger (73).

Auf der Tribüne unter anderen Dresdens erster Oberbürgermeister nach der Wende, Herbert Wagner (72, CDU); der emeritierte Politikprofessor Werner Patzelt (67, CDU) sowie der Sächsischer Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Lutz Rathenow (68).

Titelfoto: Ove Landgraf

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