Sachsens Sozialministerin Petra Köpping im Interview: "Es ist Aufgabe der SPD, den Osten im Blick zu haben"

Dresden - Am 31. Oktober 2016 - also vor genau fünf Jahren - redete Petra Köpping (63, SPD) beim "Politischen Reformationstag" in Leipzig Tacheles. Damals war sie eine der ersten, die die Kränkungen vieler Ostdeutscher in der Nachwendezeit so klar benannten und gleichzeitig als Ursache für Wut, Enttäuschung und Protest (-wahlen) ausmachten. Ihre Thesen fanden damals bundesweit Beachtung und setzten eine offenbar überfällige Debatte in Gang. Wir haben Sachsens Sozialministerin zu ebenjener Rede, aber auch zu den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen befragt.

Petra Köpping (63, SPD) wurde in Nordhausen geboren, war nach der Wende erst Bürgermeisterin von Großpösna (1994-2001), dann Landrätin im Leipziger Land (bis 2008).
Petra Köpping (63, SPD) wurde in Nordhausen geboren, war nach der Wende erst Bürgermeisterin von Großpösna (1994-2001), dann Landrätin im Leipziger Land (bis 2008).  © Eric Münch

TAG24: Frau Köpping, heute vor fünf Jahren hat eine Rede von Ihnen aufhorchen lassen, in der Sie das Nachwendetrauma vieler Ostdeutscher beschreiben. Ein paar Jahre später, zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung, stießen viele Experten und Kommentatoren ins gleiche Horn. Offenbar kam Ihre Botschaft also an.

Petra Köpping: "Die Rede hat viele aufgerüttelt. Ungerechtigkeiten und Kränkungen von damals werden endlich breit angesprochen. Selbst Bundeskanzlerin Merkel hat das in einer ihrer letzten Reden zum Thema gemacht: Es gäbe 'zwei Sorten Deutsche', sagte sie. Das 'Original' und die 'Angelernten', die erst beweisen müssen, dass sie dazugehören und jeden Tag durch diese Prüfung fallen können. Spät sagt sie das, aber sie hat recht.

Es ist auch absurd zu behaupten, ich hätte durch die Debatte die AfD stark gemacht. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben als SPD vielleicht am meisten aus den Diskussionen der letzten Jahre gelernt und wichtige Probleme angesprochen. Auch deshalb sind wir im Osten stärkste Partei geworden."

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TAG24: Sind denn all die Kränkungen und Demütigungen im Nachhinein überhaupt heilbar? Und wer müsste sich da zuvorderst als "Heiler" betätigen?

Köpping: "Es war zunächst wichtig, Kränkungen und Fehler laut als Politik auszusprechen. Aber heilen müssen wir uns schon selbst. Manche haben sich trotzig eingegraben. Es gibt aber eine neue Generation der unter 50-Jährigen, damals zur Wende 20 Jahre und jünger: Sie kennen die Kränkungserfahrungen der Eltern, richten den Blick aber in die Zukunft.

Etwa unter den Arbeiterinnen und Arbeitern: Die machen sich nicht mehr klein wie in der Nachwendezeit, als jeder und jede Angst hatte um den eigenen Job. Man ließ damals alles mit sich machen. Heute kämpft man für höhere Löhne. Das bringt den ostdeutschen Beschäftigten den Stolz zurück, den sie verdienen! Das bringt mehr, als dauernd gegen "die da oben" zu schimpfen."

Anfang der 1990er-Jahre waren weite Teile der ostdeutschen Bevölkerung von Arbeitslosigkeit bedroht. Dieses Trauma sitzt noch tief.
Anfang der 1990er-Jahre waren weite Teile der ostdeutschen Bevölkerung von Arbeitslosigkeit bedroht. Dieses Trauma sitzt noch tief.  © Imago Images/Härtelpress

Petra Köpping: "Es darf keine Bürger 2. Klasse geben"

Petra Köpping zitiert auch gerne mal den (aller Voraussicht nach) künftigen Bundeskanzler Olaf Scholz (63, SPD).
Petra Köpping zitiert auch gerne mal den (aller Voraussicht nach) künftigen Bundeskanzler Olaf Scholz (63, SPD).  © imago images/photothek

TAG24: Mal konkret gesprochen, aus der Perspektive des Jahres 2021: Mit welchen politischen Sofortmaßnahmen ließe sich das Selbstwertgefühl der Menschen im Osten Deutschlands noch steigern? Der im Bundestagswahlkampf so erfolgreich bemühte Begriff des Respekts macht es sicher nicht allein.

Köpping: "Auf jeden Fall hat man im Osten das mit dem 'Respekt' sehr gut verstanden: Es darf keine Bürger 2. Klasse geben. Oder wie Olaf Scholz sagte: 'Der den Cappuccino trinkt, ist nicht mehr wert, als derjenige, der den Cappuccino bringt.'

Aber wir werden auch Dinge reparieren, wo das noch geht: bei Löhnen, Renten und Hartz IV. Deswegen haben wir als SPD für Grundrente und Mindestlohn von 12 Euro gekämpft. Denn ein Drittel der Beschäftigten landet trotz harter Arbeit in Grundsicherung. Selbst bei den Rentenungerechtigkeiten der Nachwendezeit kamen wir voran. Was hat man mir nicht alles vorgeworfen: Ich würde falsche Hoffnungen machen und depressive Stimmung verbreiten. Ich habe bewusst nicht den Mund gehalten, denn wenn man nicht kämpft, hat man schon verloren."

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TAG24: Bekanntlich sind Sie Teil des Teams, das aufseiten der SPD in Berlin die Koalitionsverhandlungen führt. Momentan sieht es aber so aus, als könne sich Ihre Partei mit Forderungen nach Erbschaftssteuer, Bürgerversicherung und überhaupt Umverteilung von oben nach unten kaum durchsetzen. Jammerschade auch und gerade für viele Sachsen, finden Sie nicht?

Köpping: "Warten wir mal ab. Die Verhandlungen haben gerade erst begonnen. In der 'Ampel' ist es Aufgabe der SPD, den Osten im Blick zu haben. In ersten Absprachen steht: Die Rente bleibt stabil. Der höhere Mindestlohn kommt. Wir reden über eine Kindergrundsicherung. Wir werden Hartz IV abschaffen und mit einem Bürgergeld den Leuten den Stolz zurückgeben und ihnen Arbeit bringen, wo das geht.

Dass die Bürgerversicherung nicht kommt, ist schade. Für mich bleibt aber wichtig, dass wir Antworten auf alltägliche Probleme der Leute finden, wenn die Mieten steigen oder die Energie teurer wird. Das trifft ganz Deutschland, aber den Osten ganz besonders."

Petra Köpping: "Ich bin gerne Ministerin in Sachsen!"

Als Sozialministerin verantwortet Petra Köpping auch die Gesundheitspolitik - und hatte plötzlich die Corona-Krise "an der Backe".
Als Sozialministerin verantwortet Petra Köpping auch die Gesundheitspolitik - und hatte plötzlich die Corona-Krise "an der Backe".  © Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa

TAG24: Mal zu Ihnen persönlich. Sie waren Integrationsministerin, als die Flüchtlingskrise aufkam und Gesundheitsministerin, als Corona zuschlug. Heißt in beiden Fällen: viel Arbeit, viel verbale Prügel vom politischen Gegner. Dumm gelaufen, oder?

Köpping: "Ich bin niemand, die sich bei Problemen und Herausforderungen in die Büsche schlägt. Ich habe in all meinen beruflichen Stationen angepackt und stand im Feuer. Egal ob als Bürgermeisterin im Oktober 1989 oder als Landrätin während der Flut. Nach Corona heißt es, soziale Sicherheit und sozialen Zusammenhalt vor massiven Kürzungen zu bewahren. Auch hier werde ich kämpfen. Und das erwarten die Leute von mir."

TAG24: Sie hatten sich ja bekanntlich vor zwei Jahren um den Posten der SPD-Vorsitzenden beworben. Sind Sie eher froh oder grämt es Sie noch, dass daraus nichts wurde? Und wären nicht ein Ministeramt oder ein Staatssekretärsposten im Bund jetzt schöne​ Trostpflaster?

Köpping: "Ich bin gerne Ministerin in Sachsen! Ich will unsere Gesellschaft wieder solidarischer machen. Der Görlitzer Schriftsteller Lukas Rietzschel sagte letztens etwas sehr Kluges: Viele hätten die letzten 30 Jahre durch harte Arbeit ihren Lebenstraum mit Einfamilienhaus und Auto erfüllt, was sie seit 1990 erhofft hatten. Doch siehe da, sie sind immer noch nicht glücklicher. Geld ist nicht alles. Solidarität und Mitbestimmen sind wichtiger!

Deswegen will ich gerade Bürger-Budgets in Sachsen einführen und wieder mehr soziale Orte schaffen, die in den letzten 30 Jahren weggefallen sind. Mehr Miteinander – das ist an der Zeit."

Titelfoto: Eric Münch

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