Es fehlen Lebensmittel und Helfer, dafür steigt die Zahl der Kunden: Sachsens Tafeln vor Zerreißprobe

Sachsen - Das System der ehrenamtlichen Tafeln, bei dem Lebensmittel vor der Vernichtung gerettet und an notleidende Bedürftige verteilt werden, steht vor der Zerreißprobe.

Manche Kunden stellen sich schon weit vor der Öffnungszeit bei der Tafel an. Zunächst muss man aber die Bedürftigkeit vorweisen.
Manche Kunden stellen sich schon weit vor der Öffnungszeit bei der Tafel an. Zunächst muss man aber die Bedürftigkeit vorweisen.  © Eric Münch

Zum einen kommen im Vergleich zum Vorjahr 30 bis 40 Prozent mehr Hilfesuchende an die Ausgabetheken, zum anderen hat sich die Lebensmittelabgabe der Discounter erheblich reduziert.

Obendrein gab es einen schmerzenden Einbruch bei der Zahl der ehrenamtlichen Helfer.

Wenn im kommenden Jahr wegen der zu bezahlenden Energierechnung eine weitere Welle von hungrigen Menschen aufschlägt, droht den Tafeln der Kollaps.

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Am Ende des Essens und des Geldes ist noch so viel Monat übrig. Immer mehr Sachsen überwinden ihre Scham und stellen sich in die Warteschlangen der Tafeln.

Karltheodor Huttner (76), Vorsitzender des Landesverbandes Tafel Sachsen: "Im vergangenen Jahr versorgten wir etwa 200.000 Kunden, inzwischen dürften es 300.000 sein."

Neukunden sind eine bunte Mischung

Der wöchentliche Paketinhalt für eine Einzelperson: eine große Hilfe, um über die Runden zu kommen.
Der wöchentliche Paketinhalt für eine Einzelperson: eine große Hilfe, um über die Runden zu kommen.  © Eric Münch

Die Neukunden sind eine bunte Mischung. Senioren, die mit der Rente nicht mehr über die Runden kommen, Studenten oder alleinerziehende Mütter.

Die Inflation und die gestiegenen Lebenshaltungskosten treiben nicht nur Sozialempfänger oder Geringverdienende zur Tafel – auch junge Familien, die den Kredit für das Haus abzahlen und bei denen der Verzicht auf den Urlaub nicht ausreicht.

Und dann sind natürlich noch die Geflüchteten aus der Ukraine, die anfangs bei Freunden oder Gastfamilien unterkamen und nicht auf Dauer in Familienstärke "durchgefüttert" werden können. Nach fruchtlosen Sozialamtsbesuchen wurde denen als Tipp die Adresse der örtlichen Tafel gesteckt.

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Viele glaubten deshalb, dies sei eine staatliche Pflichtleistung und machten teils auch Rabatz, bis sie realisierten, dass hier Ehrenamtler Almosen verteilen. Und die werden immer weniger.

Discounter kalkulieren anders

Die Discounter sind dazu übergegangen, Lebensmittel mit ablaufendem Haltbarkeitsdatum mit großen Preisnachlässen selbst zu verkaufen. Für die Tafeln bleibt somit viel weniger übrig.
Die Discounter sind dazu übergegangen, Lebensmittel mit ablaufendem Haltbarkeitsdatum mit großen Preisnachlässen selbst zu verkaufen. Für die Tafeln bleibt somit viel weniger übrig.  © Imago/Volker Preußer

Ursprünglich waren die Tafeln angetreten, bei Discountern Lebensmittel abzuholen, die kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums stehen. Doch diese Abgabe ist in diesem Sommer in vielen sächsischen Regionen um die Hälfte eingebrochen.

Wegen der gestiegenen Preise kalkulieren die Marktleiter beim Einkauf noch viel genauer und bestellen weniger. Und die Kunden gehen nicht mehr auf die Barrikaden, wenn ein Artikel für einige Tage ausverkauft ist und das Regal etwas leerer wirkt.

Außerdem haben Einkäufer in Zeiten der geschmälerten Geldbörse die Scheu vor abgelaufenen Lebensmitteln verloren. Inzwischen sind sie aufgeklärt, dass ein Jogurt eine Woche später nicht schlecht ist.

Die Märkte stellen sich auf diese neue Nachfrage ein und bestücken ganze Regalwände mit Sonderangeboten zu stark reduzierten Preisen – für die Tafeln bleibt nichts übrig. Dass hier überhaupt noch ausreichend Lebensmittel verteilt werden können, liegt an einer sächsischen Sondersituation mit einem Zentrallager.

Immer weniger Helfer

Drei ehrenamtliche Helfer packen bei der Tafel Oschatz die Wochenrationen – hauptsächlich ältere Leute stemmen das Hilfsangebot.
Drei ehrenamtliche Helfer packen bei der Tafel Oschatz die Wochenrationen – hauptsächlich ältere Leute stemmen das Hilfsangebot.  © Eric Münch

Selbst wenn es genügend Essen zu verteilen gäbe, hat ein Großteil der 45 sächsischen Tafeln ihre Kapazitätsgrenzen überschritten – nicht nur räumlich, sondern auch personell. Viele der ehrenamtlichen Helfer sind im Rentenalter.

Während der Corona-Zeit blieben sie auch aus Sorge um die eigene Gesundheit fern.

Landeschef Huttner: "Sie kamen nach der Pandemie auch nicht wieder, und junge Menschen melden sich äußerst selten für dieses Ehrenamt."

Es mangelt allerorten an Personen, die Gemüse sortieren, Kisten packen oder das Kühllager bestücken. Am meisten fehlen Fahrer, welche die Märkte oder das Zentrallager anfahren.

Wegen der übergroßen Belastung haben nicht wenige Tafeln bereits einen Aufnahmestopp für Neukunden erlassen – etwa Leipzig oder Kamenz. Das gibt mitunter böses Blut, nicht selten fließen Tränen. Man hat sich damit abgefunden, dass bereits jetzt Menschen, die dringend Hilfe brauchen, auf der Strecke bleiben.

Aufnahmestopp vor großer Welle

Karltheodor Huttner (76), Landeschef der Tafel Sachsen, sieht eine riesige Welle der Bedürftigkeit anrollen. Es mangelt an Helfern, vor allem aber an Geldspenden.
Karltheodor Huttner (76), Landeschef der Tafel Sachsen, sieht eine riesige Welle der Bedürftigkeit anrollen. Es mangelt an Helfern, vor allem aber an Geldspenden.  © Eric Münch

Der Aufnahmestopp könnte Dauerzustand werden und sich auf weitere Orte ausweiten. Denn die Tafelvereine, die sich nur über ebenfalls weniger werdende Geldspenden finanzieren, leiden ja selbst unter steigenden Sprit- und Energiekosten.

Bei der Chemnitzer Tafel zahlt man monatlich 1000 Euro für Kraftstoff und 8300 Euro für Strom, Fernwärme und Wasser.

Geschäftsführerin Christiane Fiedler (62) geht davon aus, dass sich dieser Posten im kommenden Jahr verdreifachen wird.

Alrik Schumann (32) vom Vorstand der Dresdner Tafel: "Wenn staatliche Hilfe ausbleibt, werden wir die Betriebskostenbeteiligung für unsere Kunden erhöhen müssen, um überhaupt den Weiterbetrieb gewährleisten zu können."

Während bereits jetzt Bittsteller ohne Paket weggeschickt werden müssen, droht im kommenden Jahr der Kollaps des Systems.

Karltheodor Huttner sieht eine Welle von Bedürftigen auf die Tafeln zurollen. "Sie müssen bedenken, dass die meisten Haushalte noch keine Energiekostenabrechnung haben – und die wird das Zehnfache des Bisherigen sein."

Er versichert, dass die Ehrenamtlichen alles in ihrer Macht Stehende tun, um Not zu lindern. "Letztlich müsste aber der Bund dafür sorgen, dass jeder Bürger ausreichend zu essen hat."

Doch wie kommt es dazu, dass es für die sächsischen Tafelvereine überhaupt noch ausreichend Lebensmittel gibt? Wer gilt eigentlich als bedürftig? Und wieso steht die Tafel so oft in der Kritik? Dies und mehr erfahrt Ihr am morgigen Montag hier bei TAG24.

Titelfoto: Bildmontage: Eric Münch (2)

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