Generaldirektor des Fortschritt-Kombinats: Dr. Bernhard Thieme - König von Ostsachsen
Neustadt/Sachsen - Die DDR war grau und fade, sagen nur jene, die keine Ahnung haben. Tatsächlich gab es auch im Sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat schillernde Persönlichkeiten, deren Lebensgeschichte als Vorlage für Romane taugt. Dr. Bernhard Thieme war so ein Typ. Man nannte den Generaldirektor des Kombinats Fortschritt Landmaschinen in Neustadt/Sachsen auch "König von Ostsachsen". Dessen Aufstieg, Fall und mysteriöser Freitod inspirierten Dr. Gerhard Brendler (81) zu einem Buch.

"Es ist meine historische Schuld als Fortschritt-Werker, von Thiemes Verdiensten zu berichten. Nahezu vier Jahrzehnte wurde totgeschwiegen, was der alles geleistet hat", sagt Gerhard Brendler energisch mit Blick auf das gebundene Buch (erschienen im Eigenverlag), das vor ihm auf dem Stubentisch liegt.
Dieser biografische Roman ist sein Geschenk an seinen langjährigen Chef Thieme, der am 25. Juni 2025 seinen 99. Geburtstag gehabt hätte.
"Den Spitznamen 'König von Ostsachsen' gaben Thieme begeisterte Geschäftskunden. Sie kamen aus aller Welt nach Neustadt, um Landmaschinen zu kaufen und waren fasziniert von seiner Erscheinung", berichtet Brendler, der als Dolmetscher für den Generaldirektor tätig war.
Ja, der gelernte Kaufmann Thieme war damals eine Erscheinung. Er trug Maßanzüge, Mäntel, Pariser Hutmode. Brendel: "Er liebte es, August den Starken, Goethe oder griechische Philosophen zu zitieren und schaffte es mühelos, als Entertainer Massen zu begeistern."
Gleichzeitig war Thieme ein Machtmensch. Er konnte skrupellos sein, wenn es um seine Interessen ging. Dabei interessierten ihn Geld oder amouröse Eroberungen nicht. "Das Kombinat Fortschritt stand für ihn über allem", so Gerhard Brendler.


Auch im westlichen Ausland war Fortschritt-Technik nachgefragt

Als Generaldirektor feierte der talentierte Thieme Triumphe. Er übererfüllte Pläne, überraschte die internationale Konkurrenz mit Innovationen. Auch im westlichen Ausland war Fortschritt-Technik nachgefragt, das sah das SED-Zentralkomitee gern. Die DDR brauchte harte Devisen und Thieme besorgte sie. "Man traute ihm irgendwie alles zu und übertrug ihm immer mehr Verantwortung", erinnert sich der Autor.
Der umtriebige Direktor blühte auf. Er trieb neben dem Maschinen-Geschäft den sozialen Wohnungsbau in Neustadt voran und förderte Sport, Kultur. Seine Arbeiter feierten ihn als Beschaffer von "Mangelware". Thiemes persönlicher Leitspruch: Es ist besser, Erster in Neustadt zu sein als Zweiter in Berlin.
Sein Stern sank, als das Kombinat seine ursprüngliche Größe vervielfacht hatte und 1978 knapp 70 000 Mitarbeiter beschäftige. Als Generaldirektor hatte er damals Betriebe zu führen, die über die ganze Republik verstreut waren.
In der Fläche versagten allerdings das "System Thieme" und seine Art Fertigung zu organisieren.


SED-Granden platzte der Kragen

Trotzdem machte Bernhard Thieme unbeirrt weiter. Eigenmächtig und an allen DDR-Planungsbehörden vorbei organisierte er zu Beginn der 1980er Jahre den Bau einer Schwimmhalle in Neustadt. Eine Dreistigkeit. Den SED-Granden platzte der Kragen.
Im Advent 1981 bestellte der DDR-Minister für Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau Günther Kleiber Bernhard Thieme nach Berlin zum Kadergespräch. Das Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED und Minister in der DDR eröffnet dort dem verdienten Genossen Thieme, dass er seinen Job zum 31.12. abzugeben hat.
Es folgten öffentliche Demütigungen. Am Abend des 19. April 1982 - einen Tag vor einer großen Betriebsversammlung - ging der Ex-Generaldirektor in sein Büro, schloss ab und erschoss sich mit seiner Jagdwaffe.
Thiemes Beisetzung in Neustadt erfolgte in aller Stille. Vermutlich die Staatssicherheit hatte fingierte Traueranzeigen veröffentlicht. "So wollte man wohl verhindern, dass es einen Trauermarsch zu Thiemes Beisetzung gibt", mutmaßt der Zeitzeuge Gerhard Brendler.
Tipp: Am 26. Juni 2025 wird das Buch "Der König von Ostsachsen" (Preis 25 Euro) öffentlich vorgestellt im Götzinger-Saal der Neustadthalle (Beginn 17 Uhr).
Fortschritt in Zahlen

Das Kombinat Fortschritt Landmaschinen wurde 1951gegründet durch den Zusammenschluss von fünf ostsächsischen Landmaschinenbetrieben. Zu dem Werk in Neustadt/Sachsen kamen damals Betriebe in Stolpen, Singwitz, Bischofswerda und Kirschau dazu. 1978 legte man dann den gesamten Land- und Nahrungsgütermaschinenbau der DDR zusammen.
Das Kombinat Fortschritt bekam neue Betriebsteile in der ganzen Republik und lieferte Maschinen in alle Welt. Anfang der 1980er-Jahre spaltete man dann wieder die Betriebe des Nahrungsgütermaschinenbaus vom Kombinat Fortschritt ab. Ende der 1980er-Jahre standen etwa 56 000 Männer und Frauen bei Fortschritt in Lohn und Brot.
Nach dem Mauerfall entließ man sämtliche Betriebe des Kombinats in die Selbstständigkeit und nur ausgewählte schafften erfolgreich den Sprung in die Marktwirtschaft.
Capron knüpft an Geschichte an

In den alten Hallen des Landmaschinen-Kombinats Fortschritt montiert die Firma Capron heute Wohnmobile. An die glorreiche Geschichte des Landmaschinenbaus in Neustadt/Sachsen knüpft die Firma Capron an. Das Unternehmen wurde 2005 als Gemeinschaftsunternehmen der Hymer AG und der Dethleffs GmbH & Co. KG gegründet. Es hat sich auf den Bau von Wohnmobilen spezialisiert und ist seither beständig gewachsen als reiner Entwicklungs- und Produktionsstandort.
Capron gehört heute zur Erwin Hymer Group, die eine 100-prozentige Tochter von Thor Industries ist - einem der weltweit größten Hersteller von Freizeitfahrzeugen. Das Unternehmen entwickelt und produziert verschiedene Camper Vans und Reisemobile der Marken Sunlight und Carado.

Es beschäftigt über 800 Mitarbeiter und gehört zu den innovativsten Betrieben der Region. Dabei engagiert es sich besonders im Bereich der Ausbildung.
Titelfoto: Fotomontage: Repro: Norbert Neumann//dpa/Hans Wiedl//Norbert Neumann