Wie Ärztin Katrin sich auf Sachsens vergessene Fünftausender-Berge "verirrte"
Leipzig - Die höchsten "sächsischen" Berge sind nicht etwa Fichtelberg (1215 Meter) und Auersberg (1019), sondern Pik Leipzig (5725) und Pik Saxonia (5345). Sie liegen im Pamir-Gebirge an der Grenze zwischen Kirgisistan und Tadschikistan und sind etwa 4500 Kilometer Luftlinie vom Freistaat entfernt. Da sich in diese einsame Gegend selten bis nie ein Mensch verirrt, weiß man kaum, ob die Welt wenigstens dort noch in Ordnung ist. Bloß gut, dass die verwegene Ärztin Katrin Oertel (42) kürzlich beide Gipfel besucht hat.

Vor nunmehr 35 Jahren gelang es vier Leipziger Bergsteigern um Ralf Brummer (73), bei den Sowjets die Genehmigung für die Erstbesteigung eines noch unbenannten Eisriesen zu erhalten. Und weil in der Nachbarschaft ein weiterer Gipfel lockte, eroberten und tauften sie auch diesen.
Der Kartograf Rolf Böhm aus Bad Schandau fertigte dazu eine recht hübsche Landkarte an. Genau diese Karte entdeckte die in Halle an der Saale geborene Ärztin Katrin Oertel in einem Buchladen in Innsbruck.
Nach einer waghalsigen Tour über die höchsten Berge des amerikanischen Doppelkontinents wollte sie nun höher hinaus und mit dem Pik Lenin (7134 Meter) ihren ersten Siebentausender erklimmen: "Und auf dieser Karte sah ich einen Berg namens Leipzig. Ich wusste sofort: Da will ich auch hoch!"
Doch in Kirgisistan scheint man diese wunderschönen Berge gar nicht zu kennen. Denn als Oertel bei der zuständigen Behörde den Grenz-Erlaubnisschein für den Pik Lenin abholte und von ihrem Vorhaben für "Leipzig" und "Saxonia" erzählte, hörte man dort das erste Mal davon. Ein Grund mehr, Böhms Karte zu folgen.


Bergsteigerin Katrin Oertel fand Gesellschaft und ein Abenteuer

Auch wenn die Gipfelstürmerin viele ihrer Abenteuer allein unternimmt, sucht sie sich gern vor Ort Gesellschaft. Gleich an ihrem zweiten Tag in Asien traf sie den in Moskau geborenen Kletterer Sewa und überredete ihn zu diesem Höhentrip.
Er durfte sich bei der promovierten HNO-Ärztin dafür in guten Händen wissen, denn sie ist obendrein auf Notfall-, Expeditions- sowie Berg- und Höhenmedizin spezialisiert.
Aufgrund seiner Muttersprache erwies sich Sewa schon bald als Glücksfall. Denn in die einsame Gegend vor den sächsischen Bergen fahren keine Busse. Man schlägt sich per Anhalter durch oder findet die hier üblichen "geteilten Taxis".
Auch beim Sammeln von Proviant für die geplanten zehn Tage war sein Russisch vorteilhaft.
Eine hübsche, wenn auch nicht dauerhaft bewohnte Jurtensiedlung war das letzte Zeichen der menschlichen Zivilisation. Es folgte ein Drei-Tages-Marsch: über sanfte Hügel und Geröllfelder, durch sich abwechselnde saftig-grüne und herrlich farbenfrohe Blumenwiesen.
An einem reißenden Gebirgsbach, der mehrfach durchwatet werden musste, fanden auch vereinzelte Yaks ihre Kühlung. Katrin Oertel: "Und wenn die Sonne darauf scheint, leuchten Pik Leipzig und Pik Saxonia knallrot in der Ferne."

Nicht ungefährlicher Aufstieg auf den Pik Leipzig

Da beide Berge über einen gemeinsamen Sattel zu erreichen sind, konnte dort ein Hochlager errichtet werden. Von hier aus war der Weg zum Gipfel des Saxonia nicht mehr weit, auch wenn sich der Gang über das ansteigende Schneefeld etwas in die Länge zog.
Oertel: "Es gibt einen wunderbaren Blick über die Landschaft zu den anderen Bergen. Wir entdeckten auch einen türkisfarbenen See, der nicht in der Karte eingezeichnet war."
Der Aufstieg zum Pik Leipzig schien zunächst viel anspruchsvoller. Der Berg ist gesäumt von mächtigen Gletschern und gewaltigen, überhängenden Eisflanken. Lediglich eine steile Flanke schien geeignet. Und sie war leichter zu bewältigen, als sie zuerst aussah.
Nur die letzten 150 Höhenmeter wurden zur Qual, weil man bei jedem Schritt bis zum Knie in den Schnee sank.
Belohnt wurden die beiden mit einer ebenfalls atemberaubenden Aussicht auf die massive Pamir-Gebirgskette. In eine Schneewehe schaufelte Katrin eine bequeme Couch, auf der man in der Sonne eine Stunde lang das Panorama genießen konnte.
Die Oertelsche Expedition ist nach 1989 und 2014 die nunmehr dritte Besteigung beider sächsischen Riesen.


Ärztin eroberte auch Achttausender Manaslu in Nepal

Auf dem Rückweg besuchte das Zweierteam - auch zum Baden - drei von oben entdeckte Bergseen. Oertel: "An zweien gab es viele Wasservögel und Wasserpflanzen in den schönsten Farben. Im tiefblauen, vielleicht durch Kupfer hervorgerufen, fand sich allerdings kein Leben."
Sewa hatte für sein erstes Mal genug Höhenluft geschnuppert, deshalb verzichtete er auf den Aufstieg zum Pik Lenin. Katrin Oertel eroberte wenige Wochen später mit dem Manaslu (8163) in Nepal auch noch ihren ersten Achttausender - ohne Führer und zusätzlichen Sauerstoff.
Zurück in Deutschland besuchte sie für eine nette Fachsimpelei den Erstbesteiger Ralf Brummer in Leipzig. Dass er damals in einer mit "Pik Leipzig" gravierten Metalldose ein Gipfelbuch hinterlassen hatte, wusste sie nicht.
Oertel: "Wahrscheinlich ist es viele Meter dick von Schnee bedeckt. Dort oben war alles nur weiß. Nix als Schnee und Eis."
Die Leistung der verwegenen Ärztin kann Brummer nur bewundern: "Ich habe selten eine so schmerzfreie Person erlebt. Ich bin ihr auch sehr dankbar."
Denn wenn die Berge Leipzig und Saxonia nicht regelmäßig von sich reden machen, gerät die Namensgebung vielleicht in Vergessenheit. Brummer: "Mich wundert schon, dass der Freistaat oder die Messestadt nicht mehr Werbung zu diesen Schätzen machen."
Titelfoto: Bildmontage: Katrin Oertel