Sie wurde taub geboren: Elfjährige Hannah hat ein technisches Wunderwerk im Kopf
Döbeln - Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Denn die kleine Hannah (11) aus Döbeln (Landkreis Mittelsachsen) ist taub. Trotzdem ist sie eine engagierte Modern-Jazz-Tänzerin, rezitiert in der Schule gern Gedichte, spricht Englisch, singt gern und spielt Flöte.

Sie hat dank zweier Implantate im Kopf ein ganz spezielles Hören erlernt - wobei sogar ein Tiger half. Hannah trickst mit Hightech ihr kleines Handicap aus. Jetzt wird ein Dokumentarfilm über ihr tapferes Leben gedreht - damit ihre Energie und Beherztheit auf andere Betroffene abfärbt. "Denn wer taub ist, der ist nicht dumm", stellt sie unter Beweis.
Wer sie sprechen hört, ahnt nicht, dass sie taub geboren wurde. Hannah Roßberg (11) aus Döbeln fehlen die Härchen in der Innenohrschnecke - ein Gendefekt. Die Diagnose wurde schon ein paar Tage nach ihrer Geburt bei einem Hörscreening gestellt.
"Es war eine Schockdiagnose", erinnert sich ihre Mutti Yvonne (45). "Zudem zeigten Hörgeräte bei meinem Baby keine Wirkung. Die Ärzte am Dresdner Uniklinikum empfahlen deshalb Implantate."
Während einer sechsstündigen OP wurden bei ihrer erst elf Monate alten Tochter zwei Cochlea-Implantate eingepflanzt - gleichzeitig und mit allen unappetitlichen Begleiterscheinungen wie Schädel auffräsen, Wundschmerzen, Klinikaufenthalt und zig Rehas. Die OP war ein Erfolg. Mithilfe der Miniatur-Magie im Kopf und smarten Clips hinter Hannahs Ohren ist ihre Welt in eine Geräuschkulisse gehüllt.
Wie funktioniert das kleine Technikwunder? Sprache, Töne und Klänge werden von zwei lauschenden Prozessoren hinter beiden Ohren aufgefangen, verarbeitet und über Kabel an zwei Spulen übertragen.

Hannah: "Ich höre bestimmt anders als andere"

"Diese lege ich links und rechts an den Kopf, wo sie magnetisch festgehalten werden und in Aktion wild und bunt blinken", erklärt die Elfjährige. Unter der Haut übertragen je 15 Elektroden die aufbereiteten akustischen Impulse an Hannahs Hörschnecke - lateinisch "Cochlea", daher auch der Name der Implantate.
Der Rest passiert wie bei hörenden Menschen auch: Die Impulse werden über den Hörnerv ans Gehirn weitergeleitet, wo sie als Sprache, Töne, Klänge oder Geräusche wahrgenommen werden. "Ich höre bestimmt anders als andere, aber ich kann es ja nicht vergleichen", sagt Hannah, die nur dieses eine Hören kennt, das sich in etwa anhört, als würden Roboterstimmen und Micky Maus sprechen.
Mit dem Hören konnte sie Sprechen lernen. Heute spricht Hannah mühelos verständlich, setzt sogar die Betonung bei Gedichten ausdrucksstark an die richtige Stelle.
Wie sie das macht? "Ich weiß es selbst nicht, ich kann meine Aussprache ja nicht hören", sagt sie. Hannahs Mutti hat da so eine Ahnung: "Ich habe ihr viel vorgelesen, immer wieder Begriffe mit ihr geübt. Weil ich dabei immer deutlich sprechen musste, rede ich automatisch weniger Sächsisch."
Hannah spricht Englisch und will nun Französisch lernen

Auch Hannahs heute 20-jähriger Bruder Lucas und Papa Christian (47) haben immer wieder fleißig zusammen an der Aussprache gefeilt. Und auch Tiggie hat geholfen, ein Plüsch-Tiger.
"Den habe ich seit meiner Geburt und kann ihn alles fragen", erzählt Hannah. "Tiggie antwortet immer brav. Auch wenn es wie Mamas verstellte Stimme klingt."
Tiggie hat echte Arbeit geleistet. Alle Mühen haben sich ausgezahlt. Hannah hat inzwischen sogar Englisch gelernt, spielt Flöte und tanzt in der Tanzgruppe "Bellinis" beim Kinder- und Jugendsportclub Döbeln e. V. Hannah: "Ich mag laute Musik trotz meiner Hörgeräte." Die setzte sie nur beim Schwimmunterricht ab.
In der Schule wurde Hannahs Klassenzimmer extra umgebaut. "An Decke und Wänden wurden Schallschutzplatten angebracht", erzählt ihre Klassenlehrerin Diana Dittmann (40) von der Theodor-Kunzemann-Grundschule.
Auch die anderen Schüler der Klasse 4A hatten Nutzen davon. Dittmann: "Es ist angenehm leise im Klassenraum und schallt kaum." Zudem hörte Hannah die Unterrichtslektionen über ein Funkmikrofon, in das die Lehrer sprechen. Ihr Lieblingswort ist ein Zungenbrecher: "Desoxyribonukleinsäure".
Hannah wurde am Lessing-Gymnasium aufgenommen, wo sie Französisch als zweite Fremdsprache lernen möchte.


KiKA dreht Reportage über Hannahs Leben
Hannahs Leben mit dem Implantat wird gerade vom Dresdner Studio Klarheit für eine Reportage im Kinderkanal (KiKA) verfilmt. "Ich war von ihrer extremen Leistungsbereitschaft fasziniert", erzählt Filmproduzent Jörg-Peter Bauer. Der 25-minütige Report läuft im November im KiKA-Format "Schau in meine Welt".
Hannah meistert tapfer den Alltag mit ihrem Schicksal, will anderen ebenso Betroffenen mit der Reportage Mut machen. Den braucht sie manchmal selbst, wenn sie dem turbulenten Gesprächsdurcheinander auf Familienfeiern oder in der Schulpause selbst mit Lippenlesen nicht folgen kann.
"Ich will auch so sein wie die anderen", wünscht sie sich dann. Dabei ist sie es längst. Und noch dazu viel besser als manch andere.
OPs sind heute fast schon Routine

"Das Cochlea Implantat bereitet den Außenschall mithilfe eines Sprachprozessors auf. Die Signale werden dann über einen Draht mit bis zu 22 Elektroden direkt ins Innenohr geleitet", erklärt Prof. Thomas Zahnert (F.), Direktor der HNO-Uniklinik in Dresden. "Die heute eingesetzten Implantate sind dabei viel leistungsfähiger als noch vor 25 Jahren."
Auch die kleine Patientin Hannah Roßberg wurde an der Dresdner HNO-Uniklinik operiert. Jedes Jahr werden allein hier bis zu 140 Cochlea Implantate eingesetzt - bei Schwersthörigen, taub geborenen Kindern, nach Unfällen oder nach chronischen Entzündungen.
Die Patienten sind dabei zwischen sieben Monaten und 86 Jahren alt. Sie müssen einmal im Jahr zur Einstellungskontrolle des Implantats in die Klinik kommen.
Titelfoto: Petra Hornig