Fußball-WM 1974: Als die DDR die BRD besiegte!
Hamburg - Nur ein einziges Mal erreichte die Nationalmannschaft der DDR die Endrunde eines großen Fußballturniers. Doch dort setzte sie einen fulminanten Donnerschlag: Mit einem satten Rechtsschuss von Jürgen Sparwasser wurde vor 50 Jahren - am 22. Juni 1974 - die Elf der Bundesrepublik Deutschland besiegt. Beide Teams gingen aber als Gewinner hervor.

Die kommunistischen Machthaber feierten dies als grandiosen Triumph gegen den Klassenfeind. Und für Beckenbauer und Co. war es zum richtigen Zeitpunkt der nötige Tritt in den Hintern, um endlich in Weltmeisterform zu kommen.
Beide deutsche Teams in derselben Vorgruppe! Der elfjährige Sängerknabe Detlef Lange ahnte nicht, welches politisches Beben sein argloser Griff in die Lostrommel im Nachbarstaat auslösen sollte: Manfred Ewald, Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB), witterte eine böse Verschwörung des Westens. Er zürnte, dass dies politische Absicht und eine gezielte Provokation der Imperialisten gewesen sei.
Für die Stasi ein Grund mehr, die Reise zum Turnier in der Bundesrepublik als Höhepunkt des Klassenkampfes zu stilisieren. Nicht nur die Spieler mussten sich politischen Schulungen unterziehen, wie sie sich etwa bei Provokationen zu verhalten hätten.
Auch die auserlesenen Sporttouristen, welche für die Westreise zugelassen wurden. Und die inoffiziellen Mitarbeiter liefen zur Höchstform auf, um die mögliche Republikflucht jedes Einzelnen zu verhindern.
Berti Vogts grätscht verzweifelt ins Leere



Als die Partie in Hamburg endlich angepfiffen wurde, war die ganz große sportliche Brisanz bereits verflogen. Sowohl das Team mit dem Ährenkranz-Emblem auf dem blauen Trikot als auch die Träger des Bundesadlers auf Weiß hatten sich bereits für die Zwischenrunde qualifiziert. Und trotzdem fieberten in Ost und West Millionen Zuschauer vor den Bildschirmen mit.
Die wurden aber enttäuscht, zumindest von der DFB-Elf. Schließlich war sie als ein großer Favorit auf den Titel ins Turnier gegangen. Doch Franz Beckenbauer, Paul Breitner und Gerd Müller spielten schablonenhaft, ideenlos, matt wie eine abgestandene Limonade. Höhepunkte? Mangelware. Bis zur 77. Minute.
Heribert Faßbender, ARD-Kommentator: "Hamann, der Auswechselspieler von Vorwärts Ost-Berlin hat die Mittellinie überdribbelt, sieht sich jetzt Beckenbauer gegenüber, zieht es vor, steil zu spielen auf Sparwasser, schöne Aktion ...". Heinz Florian Oertel im DDR-Fernsehen: "Sparwasser, Sparwasser und Tor! Jürgen Sparwasser aus Magdeburg!"
Ein Schnappschuss aus der Hintertorperspektive fing den Schockmoment für die Bundesrepublik für alle Ewigkeit ein: Der Ball noch in der Luft, doch Sepp Maier, die "Katze von Anzing", bereits geschlagen am Boden. Sein Gesicht erinnert an Edvard Munchs "Der Schrei", als würde er die historische Tragweite des Augenblicks schon erfassen. Berti Vogts grätscht verzweifelt ins Leere. Und das noch hoffnungsvolle Gesicht Sparwassers wird sich gleich in ekstatischen Jubel wandeln.
Sparwasser wurde am Ende selbst zum "Klassenfeind"


Das Hamburger Publikum verhöhnte die Verlierer mit "Uwe, Uwe"-Rufen - der HSV-Star Seeler war nicht mehr im Team. Wie ein begossener Pudel kam der DFB-Tross in einer heruntergekommenen Sportschule in Schleswig-Holstein an.
Dort wurde in derselben Nacht noch der legendäre "Geist von Malente" aus der Flasche geholt. Korkenzieher soll ein fuchsteufelswilder Kaiser gewesen sein. Beckenbauer später: "An Schlaf dachte niemand und ich putzte jeden runter, der mir vor die Augen kam."
So soll aus begnadeten Einzelspielern eine Mannschaft geworden sein. Schließlich konnte man den deutschen Nachbarn im Finale erneut begegnen. Doch die Helden des Ostens hatten ihr Pulver verschossen.
Sie unterlagen den zu dieser Zeit erstaunlich schwachen Brasilianern, spielten gegen noch schwächere Argentinier nur Unentschieden und hatten gegen die Niederlande keine Chance. Das Team um den genialen Johann Cruyff musste sich erst im Finale geschlagen geben - der Bundesrepublik Deutschland.
Danach erhielt Jürgen Sparwasser viele Gratulations- und Dankesschreiben aus dem Westen. Er habe mit dem DDR-Gruppensieg dafür gesorgt, dass die BRD in die einfachere Gruppe kam und die Aufgaben gegen Polen, Schweden und Jugoslawien souverän lösen konnte.
Sparwasser wurde 1988 selbst zum "Klassenfeind", als er während einer Reise im Westen blieb. Vom Mauerfall ein Jahr später ahnte er freilich nichts.
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