"Kaputtes" System: Europa vermisst über 51.000 Kinder!

Berlin - Zehntausende unbegleitete geflüchtete Minderjährige werden in Europa vermisst. Ein Journalistennetzwerk deckte nun auf, wie die Behörden seit Jahren über den Verbleib der Kinder im Dunkeln tappen.

Nachdem sie aus den Einrichtungen verschwinden, verliert sich die Spur geflüchteter Minderjähriger meist recht schnell. (Symbolbild)
Nachdem sie aus den Einrichtungen verschwinden, verliert sich die Spur geflüchteter Minderjähriger meist recht schnell. (Symbolbild)  © Boris Roessler/dpa

Europaweit fehlt von 51.433 unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten jede Spur - und das, obwohl sie zuvor in staatlicher Obhut waren. Das zeigt eine Datenrecherche des internationalen Journalistennetzwerks "Lost in Europe", zu der auch "rbb24 Recherche", der belgische "De Standaard", die niederländische Tageszeitung "NRC" und die italienische Nachrichtenagentur ANSA gehören.

Demnach kamen die Kinder zwischen 2021 und 2023 nach Europa und verschwanden dann vom Radar. Bis heute haben die Behörden keine Ahnung, wo sie sind.

Angaben des BKA zufolge werden in Deutschland aktuell 2005 minderjährige Geflüchtete gesucht. Die Zahl hat sich den Recherchen des Netzwerks zufolge seit 2021 mehr als verdoppelt. Damals lag die Zahl vermisster Kinder in Europa bei rund 18.300, in Deutschland bei 792.

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Nach ihrer Registrierung bei einer Erstaufnahmestelle werden unbegleitete Minderjährige bundesweit von Jugendämtern in Unterkünfte vermittelt. Dort gibt es zwar Betreuer, die sich kümmern sollen, doch es passiert nicht selten, dass die Jugendlichen abhauen und nicht wiederkommen.

"Kaputtes Migrationssystem": Große Lücken bei Datenerhebung

Immer wieder werden Jugendliche in unmenschlichen Zuständen eingeschleust - und tauchen dann ab. (Symbolbild)
Immer wieder werden Jugendliche in unmenschlichen Zuständen eingeschleust - und tauchen dann ab. (Symbolbild)  © Bundespolizei/dpa

Die Recherchen zeigen auch: Bei der Datenerhebung zeigen sich zwischen den einzelnen Behörden massive Unterschiede. In 31 europäischen Ländern antworteten lediglich 15 der zuständigen Behörden auf die Anfragen des Recherche-Netzwerks.

Während die Zahlen beispielsweise in Italien und Österreich mit jeweils über 20.000 verschwundenen Minderjährigen sehr hoch sind, werden solche Daten in Ländern wie Spanien und Griechenland gar nicht erst erfasst.

Ein Grund für diese enormen Lücken könnte das "kaputte Migrationssystem" sein, wie es die zuständige EU-Kommissarin für Migration und Inneres, die Schwedin Ylva Johansson (60), in einem Interview mit rbb24 Recherche nennt.

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Über die genauen Gründe des Verschwindens kann aktuell nur gemutmaßt werden. Fachleute vermuten, die lange Verfahrensdauer würde viele Jugendliche bewegen, die Unterkünfte zu verlassen. Es könne allerdings auch sein, dass die Geflüchteten eigentlich zu Verwandten oder Freunden in anderen europäischen Ländern wollten. Das BKA bestätigte diese Vermutung, so der Bericht.

Die Risiken für die jungen Geflüchteten sind hoch: "Wenn Kinder als vermisst gelten, müssen wir davon ausgehen, dass sie besonderen Risiken ausgesetzt sind. Das kann sein, dass sie kriminellen Organisationen in die Hände fallen, dass sie ausgebeutet werden, sexuellen Missbrauch erfahren. Solche Fälle kennen wir", warnte Theresa Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk.

Kann ein neuer EU-Migrationspakt helfen?

Im Mai will die EU einen Migrationspakt verabschieden, der nicht nur Gesetzesvorschläge für eine bessere und einheitliche Registrierung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, sondern auch Vorgaben zur Vermittlung von Betreuungspersonen enthält.

Diese Vorgaben fehlten bislang. Nach ihrer finalen Abstimmung müssen die Mitgliedsländer die neuen Vorgaben noch in nationales Recht überführen.

"Ich habe von allen 27 Staaten die Zusage bekommen, dass sie das tun werden", so EU-Kommissarin Johansson.

Titelfoto: Boris Roessler/dpa

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