Zum Mauerfall im Mittelmeer: Wie ein DDR-Bürger auf der "Arkona" den 9. November '89 verpasste
An diesem Wochenende vor genau 36 Jahren erlebte Jörg Hinz (70) den Mauerfall als DDR-Bürger mitten im Mittelmeer. Am 9. November arbeitete er als DJ und Animateur an Bord des DDR-Kreuzfahrtschiffs "Arkona", das im Hafen von Limassol auf Zypern vor Anker lag. Ausgerechnet während seiner ersten Dienstreise hinter den Eisernen Vorhang fiel dieser plötzlich und unerwartet. Hinz wurde vom Schicksalstag der Deutschen just im westlichen Ausland schlagartig überrascht. Hier erzählt er seine Geschichte vom Mauerfall. Sie beginnt in der eingemauerten DDR und endet mit der Heimkehr zu offenen Grenzen in den Westen.
Seit 1985 war Jörg Hinz (70) DDR-Unterhaltungskünstler mit offiziellem Berufsausweis. Er fuhr zu Showauftritten durch die halbe DDR, war beliebter Gast-DJ im Gasthaus "Weiße Taube" in Pirna und im FDGB-Erholungsheim "Am Fichtelberg" in Oberwiesenthal.
"Ich muss wohl recht gut gewesen sein, sodass ich 1987 auf das DDR-Kreuzfahrtschiff MS Arkona als DJ, Entertainer und Animateur beordert wurde." Er moderierte, sang und parodierte an Bord und kam viel rum. Allerdings nur im Ostblock - Riga, Leningrad, Sotschi.
Dann kam 1989 das Angebot der ersten Kreuzfahrt ins NSW (Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet). Auf der Route standen diesmal für DDR-Bürger so exotische Ziele wie Lissabon, Zypern und Teneriffa.
"Meine Frau Ilona wurde kurzerhand zu meiner Technikerin erklärt und durfte mitfahren. Unsere Kinder Stefanie (5) und Marcel (12) mussten jedoch zu Hause bleiben. Wir trösteten sie - am 18. Dezember 1989 sind wir wieder da."
Am 9. November 1989 legte die Arkona in Limassol an
Als in der DDR die ersten Montagsdemos starteten, legte die "Arkona" in Warnemünde ab.
Hinz erinnert sich: "Hinterm 'Teepott' ging es für uns zum ersten Mal Richtung England und mit einer fetten Windstärke 12 durch die Biskaya."
Die Hinzes wohnten in der vorletzten Kabine hinten auf dem Mitteldeck. "Es ging wie in einem Fahrstuhl rauf und runter."
Am Morgen des 9. November 1989 legte die "Arkona" im Hafen von Limassol auf Zypern an. "Ilona und ich nahmen als Crewpersonal an einer Stadtrundfahrt teil, sahen das erste Mal Apfelsinenbäume und Palmen in freier Natur und schlenderten durch das Einkaufsviertel - zum ersten Mal in einer ganz anderen Welt."
Am nächsten Morgen wollte er noch einmal in die Stadt, um Weihnachtsgeschenke für Stefanie und Marcel zu kaufen. "Meine Frau hatte keine Lust mitzukommen, sagte: 'Geh allein.'"
Hinz stieg ganz bewusst in die schwarze Mercedes-Stretch-Limo, die am Terminal als Taxi stand. "Ich hatte 50 D-Mark dabei, die ich extra mit DDR-Mark zum Kurs von eins zu neun getauscht hatte."
Den Mauerfall erlebte Hinz auf dem Kreuzfahrtschiff
Als er Geschenke gefunden hatte, wollte er noch in einem Fernsehladen nach den begehrten Metall-Kassetten fürs Tonband schauen.
Dort wurde er stutzig: "In einem Regal standen die neuesten Fernsehgeräte und zeigten alle dasselbe Programm - Menschen auf der Berliner Mauer! Ich traute meinen Augen nicht."
Was er nicht ahnen konnte: In der Nacht war 2500 Kilometer Luftlinie entfernt in Berlin die Mauer gefallen.
"Ich raste mit dem erstbesten Taxi zum Schiff zurück, taumelte wie in Trance die Gangway hinauf und eilte zu unserem Funker." Der sollte die lokalen TV-Sender checken, denn Hinz wollte ganz sicher sein, was er gesehen hatte. Beide starrten wie gebannt auf dieselben Bilder von der bekletterten Berliner Mauer.
Was Hinz im Limassoler Fernsehladen gesehen hatte, war also kein Film, sondern die neue Realität zu Hause. "Ich eilte zu Ilona in unsere Kabine und rief: 'Du glaubst es nicht: Die Mauer ist auf!'"
Als sich das Pärchen noch ungläubig anschaute, kam auch schon die Durchsage vom Kapitän über die Deckenlautsprecher: "Sehr geehrte Passagiere, ich möchte Sie darüber informieren, dass heute ..." Es klang ein bisschen wie Hans-Dietrich Genscher (†89) vor den Flüchtlingen in der Deutschen Botschaft in Prag.
Im Pool fanden Massenbadepartys statt: "Wir sind das Volk"
"Jetzt war auch klar, warum die Passagiere von den Telefonzellen im Hafen ihre Angehörigen zu Hause nicht erreichen konnten. Die waren wohl auf dem Ku'damm."
An Bord drehte der Wind schnell. Das "Genosse" als verpflichtende Anrede des Führungspersonals verschwand. Der Polit-Offizier - gewöhnlich in MfS-Diensten und für alle konspirativen Aufgaben auf dem Schiff verantwortlich - räumte kommentarlos seine komfortable Kabine. Und die neuen Kreuzfahrtgäste kamen plötzlich aus einer anderen DDR an Bord.
Im Pool fanden Massenbadepartys statt und alle riefen: "Wir sind das Volk."
Ende Dezember '89 wieder zu Hause angekommen, empfingen sie Klein-Stefanie (heute 41 und Dozentin in Berlin) und Marcel (heute 48 und Event-Techniker auf Rügen) und berichteten stolz: "Mama, Papa, wir waren schon in Westberlin!"
Zu Weihnachten gab es die Geschenke aus Limassol - für Stefanie ein Plüschtier, ein kleines Spielzeugauto für Marcel. Ein Jahr später checkte die gesamte Familie für eine gemeinsame Reise auf der "Arkona" ein.
2013 kehrte Hinz noch einmal nach einmal Limassol zurück - diesmal an Bord der MS "Europa 2". "Da standen noch die alten Telefonzellen von der 1989er-Reise am Terminal. Auch das schwarze Mercedes-Taxi fuhr noch herum." Vor zwei Wochen war Hinz dann mit der "Mein Schiff 5" erneut in Limassol - fast genau zum Jubiläum seiner Mauerfall-Reise.
"Inzwischen gibt es dort ein neues Hafenterminal. Das Taxi und die Telefonzellen waren verschwunden." Und auch den Fernsehladen gab es nicht mehr. "Dort ist jetzt ein Textilgeschäft eingezogen."
Die Traumschiffe des Sozialismus
Die "Fritz Heckert" war das erste Kreuzfahrtschiff der DDR. Ihre Jungfernfahrt führte noch Jahre vor dem Mauerbau am 1. Mai 1961 nach Helsinki und Leningrad, später auch nach Kuba.
Weil an Bord für DDR-Bürger seltene Köstlichkeiten aufgetischt wurden, etablierte sich bei allerlei Engpässen an Land der Spruch: "Wir sind doch hier nicht auf der 'Fritz Heckert'!"
Die "Völkerfreundschaft" fuhr zwischen 1960 und 1985 als FDGB-Urlauberschiff. 1968 wurde im Fehmarnbelt eine Republikflucht aktenkundig: Ein Passagier hatte sich aus dem Bullauge seiner Kabine abgeseilt, stürzte ab und wurde von der Bundesmarine gerettet.
Insgesamt nutzten über 200 sowohl Passagiere als auch Besatzungsmitglieder Kreuzfahrten zur Flucht in den Westen.
Die "Arkona" kreuzte erst als "Traumschiff" in der gleichnamigen ZDF-Serie über die Weltmeere. Am 15. Oktober 1985 lief sie mit 654 linientreuen Genossen in Rostock-Warnemünde zur ersten Fahrt unter DDR-Flagge aus.
Nach mehreren Verkäufen wurde sie 2022 verschrottet.
Süchtig nach Meer
Viele spannende Anekdoten aus seinem Berufsleben auf vielen Kreuzfahrtschiffen dieser Welt erzählt Jörg Hinz in seinem Buch "Der Kreuzfahrtsüchtige" (erschienen 2024 bei Books on Demand/Norderstedt, 15,50 Euro) - in einem Kapitel auch ausführlich den Tag des Mauerfalls auf Zypern.
Aktuell liest er als Entertainment-Lektor auf den Transatlantikreisen der AIDAmar in die Karibik und ab Februar aus Südamerika zurück nach Hamburg aus seinen Memoiren und hält Vorträge zur Musikgeschichte.
Titelfoto: Montage: picture-alliance / dpa, privat

