80 Orten droht Überschwemmung, Tausende in Gefahr: Staudamm in Ukraine nach Explosion eingebrochen

Kiew/Moskau - Nach einer schweren Explosion an einem wichtigen Staudamm im Süden der Ukraine ist das angrenzende Wasserkraftwerk nach Angaben beider Kriegsparteien zerstört.

Der beschädigte Kachowka-Staudamm in der Nähe von Cherson.
Der beschädigte Kachowka-Staudamm in der Nähe von Cherson.  © Uncredited/Ukraine's Presidential Office/AP/dpa

Der Staudamm Nowa Kachowka im russisch besetzten Teil des Landes nahe der Front wurde schwer beschädigt. Der von Russland eingesetzte Bürgermeister, Wladimir Leontjew, sagte am Dienstag im russischen Staatsfernsehen, es sei "offensichtlich", dass das Kraftwerk nicht mehr repariert werden könne. Der ukrainische Betreiber der Anlage sprach von kompletter Zerstörung.

Befürchtet wird, dass der Bruch des Staudamms in der umkämpften Region Cherson zu massiven Überschwemmungen führt. Nach Angaben der örtlichen Behörden sind etwa 16.000 Menschen in der "kritischen Zone" zu Hause.

Der ukrainische Ministerpräsident, Denys Schmyhal (47), sprach von einer Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Die Zerstörung werde zu einer Umweltkatastrophe führen. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin (39), warnte, binnen fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen.

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Vermutet wird, dass der Damm gesprengt wurde. Kiew und Moskau machten sich gegenseitig dafür verantwortlich. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj (45), sprach von "Terror" und berief den nationalen Sicherheitsrat ein. Das ukrainische Militär begann auf der rechten Seite des Flusses Dnipro - wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt - mit Evakuierungen.

Die russischen Besatzer hingegen machten ukrainischen Beschuss für die Schäden verantwortlich. Spekuliert wurde auch, dass der Damm aufgrund schlechter Wartung gebrochen sein könnte. Die Angaben beider Seiten konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Offenbar bereits gestiegene Wasserstände um Cherson

Nach dem Einbruch des Staudamms droht umliegenden Ortschaften eine Überflutung.
Nach dem Einbruch des Staudamms droht umliegenden Ortschaften eine Überflutung.  © Uncredited/Ukraine's Presidential Office/AP/dpa

Bürgermeister Leontjew räumte ein, dass es auch zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte, die südlich von Cherson liegt. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert.

In ukrainischen Medien und in sozialen Netzwerken wurden Videos geteilt, die dem Anschein nach bereits gestiegene Wasserstände um die Stadt Cherson zeigten. Auf Aufnahmen ist auch zu sehen, wie offenbar große Wassermengen aus der Mauer des Staudamms strömen. Die Echtheit der Videos konnte zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Russland hatte das Nachbarland Ukraine vor mehr als 15 Monaten überfallen und im Zuge seines Angriffskriegs auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee dann die Befreiung eines Teils der Region - auch der gleichnamigen Gebietshauptstadt. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, darunter auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka.

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Immer wieder hatten die Ukrainer vor einem möglichen Sabotageakt der Russen in Nowa Kachowka gewarnt. Für besondere Beunruhigung sorgte, als die Besatzer im November die Evakuierung der Stadt ankündigten.

Atombehörde: Keine "unmittelbare Gefahr" für AKW Saporischschja

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms besteht laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) keine unmittelbare Gefahr für das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja. "IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau", teilte die Behörde am Dienstagmorgen auf Twitter mit. "Keine unmittelbare Gefahr am Kraftwerk."

Auch ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax, das AKW - das ebenso wie der Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro liegt - sei nicht betroffen.

Die Atom-Anlage ist infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von russischen Truppen besetzt.

Kiew sieht Motiv für Sprengung bei Russland

Die Ukraine hat nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms im Süden Russland ein klares Motiv zugeschrieben. Russland habe offensichtlich das Ziel, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen, schrieb Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Dienstag im Kurznachrichtendienst Twitter. Dies sei der Versuch, das Ende des Krieges hinauszuzögern und ein vorsätzliches Verbrechen. Russland müsse international als Terrorstaat eingestuft werden.

"Auf einem riesigen Territorium wird alles Leben zerstört", schrieb Podoljak. "Viele Ortschaften werden zerstört; der Umwelt wird enormer Schaden zugefügt." Im Fernsehen fügte er hinzu, dass Russland mit dem Anschlag im umkämpften Gebiet Cherson die Initiative im Krieg wieder an sich reißen und die europäischen Staaten einschüchtern wolle.

Umgesetzt habe die Sprengung des Wasserkraftwerks nach ersten Erkenntnissen die 205. Motorisierte Schützeneinheit der russischen Armee, sagte Podoljak. Er forderte deshalb mehr Tempo bei den westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine. Jeder müsse verstehen, dass es für Moskau keine roten Linien gebe.

Tschechien wirft Russland "Massenvernichtungswaffen" vor

Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms hat Tschechien Russland dafür verantwortlich gemacht. Außenminister Jan Lipavsky warf der Führung in Moskau am Dienstag vor, die Grenzen ihrer Aggression immer weiter zu verschieben.

"Der Angriff auf den Staudamm von Nowa Kachowka oberhalb von bewohnten Gebieten ist vergleichbar mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen Zivilisten", schrieb er auf Twitter.

Solch ein brutales Vorgehen müsse bestraft werden.

Russische Besatzer rufen Notstand aus

Angesichts der folgenschweren Explosion am Staudamm Nowa Kachowka haben die russischen Besatzer dort den Notstand ausgerufen. Das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen, sagte Bürgermeister Leontjew am Dienstag im russischen Staatsfernsehen. "Die Stadt ist überflutet."Auch das an den Staudamm angrenzende und völlig zerstörte Kraftwerk stehe unter Wasser.

Auf der russisch besetzten Seite des Flusses Dnipro sind Leontjews Aussagen zufolge insgesamt 600 Häuser in drei Ortschaften von den schweren Überschwemmungen betroffen.

Erstmeldung von 10.15 Uhr, zuletzt aktualisiert um 12.05 Uhr.

Titelfoto: Uncredited/Ukraine's Presidential Office/AP/dpa

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