Anschlag in Mölln: Mitgefühl war groß, doch Familien wussten nichts davon

Mölln/Magdeburg - 1992 verlor Familie Arslan bei dem rassistischen Brandanschlag von Mölln drei Angehörige. Hunderte Menschen sprachen Mitgefühl aus - doch die Betroffenen wussten nichts davon.

İbrahim Arslan (40, l.) kämpft um Gerechtigkeit für seine Familie und die restlichen Überlebenden der Anschläge.
İbrahim Arslan (40, l.) kämpft um Gerechtigkeit für seine Familie und die restlichen Überlebenden der Anschläge.  © Marcus Brandt/dpa

In der Nacht zum 23. November wurden in der Ratzeburger Straße neun Menschen teils schwer verletzt - gleichzeitig starb in der Mühlenstraße Bahide Arslan (51) bei dem Versuch, ihre Enkel zu retten.

Die 14-jährige Ayşe Yilmaz und die 10-jährige Yeliz Arslan erlagen kurz später einer Rauchvergiftung.

Einer der beiden jugendlichen Täter meldete die Brände anonym der Polizei und beendete seinen Anruf mit "Heil Hitler".

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Fast drei Jahrzehnte später stieß eine Studentin im Möllner Stadtarchiv zufällig auf unzählige Briefe mit Solidaritätsbekundungen und Hilfsangeboten - die den Betroffenen aber nie zugestellt wurden.

Stattdessen wurden sie von der Stadt geöffnet, gelesen, teils sogar mit Standardfloskeln beantwortet und anschließend archiviert.

İbrahim Arslan (40), der damals von dem Feuer schwer verletzte Enkel von Bahide und Bruder von Yeliz, machte es sich zur Aufgabe, diese Briefe endlich ihren Empfängern zukommen zu lassen und mit den Absendern in Kontakt zu treten.

Nun ist ihre Geschichte auf der Leinwand zu sehen: "Die Möllner Briefe" zeigt, wie Familie Arslan und die Betroffenen aus der Ratzeburger Straße mit ihrem Schicksal umgehen, sowie den Kampf um Gerechtigkeit, Aufklärung und Erinnerungskultur.

908 verschollene Briefe

Die Betroffenen des Anschlags beklagen, dass die Stadt sie nicht in Gedenkveranstaltungen mit eingebunden hat.
Die Betroffenen des Anschlags beklagen, dass die Stadt sie nicht in Gedenkveranstaltungen mit eingebunden hat.  © Gerd Kersten/Wikimedia Commons

Bewegend zeigt die im Februar prämierte Doku, wie sich İbrahim Arslan bei einigen der Absender der insgesamt 908 Briefe, Karten, Gedichte und Zeichnungen bedankt. Darunter waren Mitfühlende aus ganz Deutschland, die teils selbst noch Kinder waren.

"Solidarität hat kein Mindesthaltbarkeitsdatum", so Arslan bei einer Filmvorführung mit anschließender Diskussion in Magdeburg am Montag, bei der TAG24 anwesend war.

Erst sei er sich unsicher gewesen, sich nach drei Jahrzehnten bei den Absendern zu melden, doch sein Mut wurde mit intensivem Mitgefühl belohnt.

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Noch immer ist der Frust groß, wie die Verwaltung damals mit den Betroffenen umging. Familie Arslan sah sich gezwungen, nach dem Anschlag wieder in dasselbe Haus einzuziehen, was noch heute ihre Albträume prägt - obwohl ihnen in mehreren der verschollenen Briefe Häuser angeboten wurden.

Bei der Frage aus dem Publikum, welcher Brief besonders in Erinnerung geblieben sei, muss Arslan nicht lang nachdenken. Er sei sieben Jahre alt gewesen und wisse nun, wie wichtig traumasensible Therapie für Kinder ist. Ein Ponyhof aus der Umgebung hatte angeboten, dass die betroffenen Kinder reiten kommen können.

Der damalige Bürgermeister habe auf dieses Schreiben geantwortet, dass "die Kinder daran kein Interesse haben". Bis dato verweigert dieser eine Aussage zu den archivierten Briefen.

Dazu kommt, dass die Betroffenen nicht bei der Ausrichtung von Gedenkveranstaltungen mit eingebunden wurden - "Wir waren nur Statisten", so Arslan. Die Familien aus der Ratzeburger Straße hingegen erhielten meist nicht einmal eine Einladung.

"Es kommt oft vor, dass der Täter im Vordergrund steht"

Hava Arslan, Mutter von Yeliz, İbrahim und Namik, hat Tochter und Mutter in diesem Haus in der Mühlenstraße verloren.
Hava Arslan, Mutter von Yeliz, İbrahim und Namik, hat Tochter und Mutter in diesem Haus in der Mühlenstraße verloren.  © Marcus Brandt/dpa

Inzwischen wurden alle Briefe dem Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) in Köln übergeben.

Im September lief der Film in Mölln - dort bekamen alle Überlebenden endlich die Masse an nun digitalisierten Briefen überreicht.

Regisseurin Martina Priessner war es wichtig, eine opferzentrierte Doku zu produzieren. "Es kommt oft vor, dass der Täter im Vordergrund steht", so die 56-Jährige.

Arslan spricht inzwischen als Zeitzeuge an Schulen, engagiert sich gegen Rassismus und Diskriminierung jeder Art und versucht so, die Erfahrung zu verarbeiten.

Noch immer hat er chronischen Husten und bekommt Flashbacks, wenn er Rauch riecht. Auch sein Bruder Namik, den seine Mutter aus dem Fenster werfen musste, um ihn zu retten, kämpft mit den Folgen.

Er war zum Zeitpunkt des Feuers erst acht Monate alt, doch die ständige Angst seiner Eltern prägte ihn nachhaltig. Dazu kommt die jüngste Schwester Yeliz, die den Namen der Verstorbenen trägt - eine ewige Erinnerung an die Lücke, welche sie füllen sollte.

İbrahim Arslan rät, nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt auch dort eine opferzentrierte Erinnerungskultur zu schaffen und auf die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen zu hören.

Darüber zu reden, stoße einen Heilungsprozess an - welcher in "Die Möllner Briefe" bei seiner Familie hautnah mitverfolgt werden kann.

Titelfoto: Marcus Brandt/dpa

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