"Wie im echten Leben": Der harte Alltag von ausgebeuteten Putzfrauen

Deutschland - Bewegendes Drama! "Wie im echten Leben" läuft am 30. Juni in den deutschen Kinos an und ist eine wichtige sowie hochklassige Milieu- und Arbeitsmarktstudie geworden. Die TAG24-Filmkritik.

Christele (Helene Lambert, l.), Marilou (Lea Carne, M.) und Marianne Winckler (Juliette Binoche, 58) unterstützen sich, wo sie nur können.
Christele (Helene Lambert, l.), Marilou (Lea Carne, M.) und Marianne Winckler (Juliette Binoche, 58) unterstützen sich, wo sie nur können.  © PR/Neue Visionen Filmverleih

Im Mittelpunkt steht die arbeitslose Hausfrau Marianne Winckler (Juliette Binoche, 58), die beim Amt erklären muss, weshalb sie 23 Jahre nicht in einem Job tätig war. Dank ihrer Ehe war sie darauf nicht angewiesen, bis sich ihr Mann von ihr trennte und sie für einen Neuanfang von Paris nach Caen zog.

Dort bleibt ihr nur die Möglichkeit, als Putzfrau zu arbeiten. Das will Marianne gerne annehmen, lässt sich von Frau Sallon beraten und ihre Bewerbung gestalten. Zuvor musste die Amtsdame vor Publikum eine Szene aushalten.

Denn Christele Themassin (Helene Lambert) stellte sich ihr in den Weg und erklärte, dass sie dringend die Solidaritätsbeihilfe braucht, die sie Sallon zuvor persönlich übergeben hat. Nun erhielt sie aber einen Brief, in dem steht, dass sie genau das angeblich nicht getan hätte.

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Sie lässt sich nicht verscheuchen und fragt, wie sie ihre Kinder ernähren soll, denn sie bekommt kein Arbeitslosengeld mehr. Bald geht sie gezwungenermaßen zu einem Ausbilder-Kurs vom Arbeitsamt, wo sie unter anderem Marianne und Marilou (Lea Carne) trifft. Für den Mindestlohn von 7,96 Euro die Stunde schuften sie sich bald gemeinsam auf einer Fähre ab und stehen immer unter erheblichem Zeitdruck.

Die zwölf Reinigungskräfte müssen innerhalb von eineinhalb Stunden 230 Kabinen säubern, was vier Minuten pro Raum in Zweier-Teams sind. Nach dieser kräftezehrenden Aufgabe mit - unter anderem - widerlich hinterlassenen Toiletten sind sie völlig fertig. Marianne muss zudem aufpassen, dass ihr niemand auf die Schliche kommt, denn sie ist nicht die, die sie zu sein scheint...

Deutscher Trailer zu "Wie im echten Leben" mit Juliette Binoche und Helene Lambert

"Wie im echten Leben" ist ein zutiefst menschliches und bewegendes Drama geworden

Marianne Winckler (Juliette Binoche, 58, 2.v.l.) hat ein Geheimnis, das Marilou (Lea Carne, M.) und die anderen Damen sowie Herren nicht vorzeitig erfahren sollen.
Marianne Winckler (Juliette Binoche, 58, 2.v.l.) hat ein Geheimnis, das Marilou (Lea Carne, M.) und die anderen Damen sowie Herren nicht vorzeitig erfahren sollen.  © PR/Neue Visionen Filmverleih

Diese Geschichte beruht auf dem Buch "Quai de Ouistreham" von der französischen Journalistin Florence Aubenas (61) aus dem Jahr 2010 und wurde von Emmanuel Carrere (64, "La moustache") überwältigend gut umgesetzt.

Dem Regisseur ist ein zutiefst menschlicher und deshalb bewegender Film gelungen, der unter die Haut geht und die dauerhaft schwelende Diskussion um die Ausbeutung auf dem kapitalistisch durchzogenen Arbeitsmarkt beleuchtet.

Die exzellent recherchierte Milieustudie zeigt die Demütigungen, die Arbeitslose, befristet angestellte Personen und die vermeintliche "Unterschicht" tagtäglich erdulden müssen.

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Sie werden als "Idiotinnen" beschimpft, müssen ihr Leben und ihre Träume hinten anstellen, haben anhaltende Geldsorgen, befürchten jederzeit, für Nichtigkeiten gekündigt zu werden und dann unter noch schlechteren Bedingungen schuften zu müssen.

Diesen knallharten und leider viel zu häufig der Realität entsprechenden Alltag fängt Carrere in atmosphärisch dichten Bildern ein. Die Frauen werden etwa beim Säubern der ekelhaft vollgeschissenen Klos gezeigt. Die Leute waren zu faul zum Spülen bzw. haben das mit Absicht gemacht, um die Reinigungsleute zu ärgern. Auch das ist leider ein durchaus wahrheitsgemäßer Alltag.

OmU-Trailer zu "Wie im echten Leben" von Emmanuel Carrere mit Lea Carne und Didier Pupin

"Wie im echten Leben" ist ein wahrhaftiges und großartiges Kinoerlebnis geworden

Von links nach rechts: Die Putzfrauen um Justine (Emily Madeleine), Marilou (Lea Carne), Christele (Helene Lambert.), Marianne Winckler (Juliette Binoche, 58), Nadege (Evelyne Poree) und Michele (Patricia Prieur) stehen füreinander ein.
Von links nach rechts: Die Putzfrauen um Justine (Emily Madeleine), Marilou (Lea Carne), Christele (Helene Lambert.), Marianne Winckler (Juliette Binoche, 58), Nadege (Evelyne Poree) und Michele (Patricia Prieur) stehen füreinander ein.  © PR/Neue Visionen Filmverleih

Es ist beeindruckend, wie die Figuren mit alldem umgehen und welch innere Stärke sie trotz der Knochenjobs beweisen. Die Macher geben dabei allen Charakteren Spielraum, weshalb sie Substanz haben, vielschichtig daherkommen und ein hohes Identifikationspotenzial für das Publikum bieten.

So taucht man auch emotional tief in das Geschehen ab, das die Ungerechtigkeit der (Arbeits-)Welt offenlegt und einen mit den Personen mitleiden lässt.

Daran haben die präzisen, weil hintergründigen und authentischen Dialoge, das brillante Drehbuch und die schauspielerischen Leistungen großen Anteil. Binoche ("High-Life", "So wie du mich willst", "Der englische Patient") verkörpert ihre Figur gewohnt nahbar und glaubwürdig, auch ihre Mitstreiterinnen sorgen dafür, dass der Film wahrhaftig wirkt und lange nachhallt.

Denn außer Binoche hat Carrere lediglich echte Putzfrauen gecastet, die sich also selbst gespielt haben, und das auf sehr überzeugende Weise.

Auch die passenden Kostüme, die bewusst einfach gehaltenen Frisuren, die dynamische Kameraführung, die stimmigen Locations, die gute Musikuntermalung und der erstklassige Schnitt haben am Gelingen des Films ihren Anteil. Besonders die auflockernden Sprüche, der taktvolle Humor, die Herzlichkeit und der Zusammenhalt der Figuren, die oft verletzt wurden, aber immer weitermachen, sind ganz großes Kino!

Marianne Winckler (Juliette Binoche, 58) lernt, was es heißt, körperlich richtig für den Lebensunterhalt schuften zu müssen.
Marianne Winckler (Juliette Binoche, 58) lernt, was es heißt, körperlich richtig für den Lebensunterhalt schuften zu müssen.  © PR/Neue Visionen Filmverleih

Zusammengenommen zählt "Wie im echten Leben" zu den stärksten Filmen des Jahres 2022, weil er auf einer tief gehenden emotionalen Ebene berührt, eine spannende sowie entlarvende Milieustudie mit interessanten Figuren geworden ist und eine extrem wichtige Handlung hat, die den Zeitgeist trifft. Wer auch nur ansatzweise etwas mit ähnlich humanistischen Dramen wie "Sorry We Missed You" anfangen konnte, sollte sich dieses Werk auf jeden Fall anschauen.

Titelfoto: PR/Neue Visionen Filmverleih

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