Chemnitz: Muslime, Juden und Christen gedenken an Reichspogromnacht

Chemnitz - Chemnitz gedachte am heutigen Donnerstag der fürchterlichen Progrome in Deutschland am 9. November 1938. Auch am Stephanplatz, wo damals die Synagoge niederbrannte. Vertreter aller drei großen Religionen in der Stadt erinnerten an den großen Schmerz der jüdischen Menschen.

"Der 9. November ist eine Schande für die Menschheit": der Chemnitzer Imam Abdusalam Absi (51).
"Der 9. November ist eine Schande für die Menschheit": der Chemnitzer Imam Abdusalam Absi (51).  © Kristin Schmidt

Abdusalam Absi (51), Vorsitzender des Islamisch-Kulturellen Vereins und Imam der Moschee in der Solbrigstraße, äußerte sich unmissverständlich: "Wir sind alle traurig wegen dieser schmerzhaften Erinnerung. Der 9. November 1938 ist eine Schande für die Menschheit. Der Gedenktag muss dabei helfen, dass sich solche Ereignisse nicht wiederholen - egal gegen welche Gruppe, Religion oder Hautfarbe."

Absi äußerte sich auch zum Angriff auf Israel am 7. Oktober: "Jeder von uns ist traurig über die Gewalt gegen die Juden. Besonders tragisch ist, dass Zivilisten auf beiden Seiten getötet werden."

Der Evangelische Superintendent Frank Manneschmidt (56) sieht den 9. November als wichtigen Gedenktag an die Zerstörung der Synagogen.

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"In diesem Jahr stand er unter besonderem Eindruck des Gaza-Konflikts." Manneschmidt findet die Fülle historischer Ereignisse am 9. November - von Judenpogromen bis zum Mauerfall - erstaunlich: "Er sollte unser nationaler Feiertag werden."

Im Rückblick auf die Judenverfolgung der Nazis äußert er Kritik an seiner Kirche: "Wir waren damals nicht ausreichend vertreten. Bonhoeffer warnte bereits 1933, blieb aber in der Minderheit. Der evangelische Widerstand trat mehr für eigene Interessen ein."

"Der 9. November sollte nationaler Feiertag werden": Superintendent Frank Manneschmidt (56).
"Der 9. November sollte nationaler Feiertag werden": Superintendent Frank Manneschmidt (56).  © Ines Escherich

Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz besorgt: "Antisemitismus ist eine Bedrohung für jüdisches Leben und für die Demokratie"

"Art des Gedenkens erhalten": Ruth Röcher (69), Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz.
"Art des Gedenkens erhalten": Ruth Röcher (69), Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz.  © Kristin Schmidt

Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, Ruth Röcher (69), ist besorgt: "Auf den propalästinensischen Demonstrationen seit dem 7. Oktober wird offen Judenfeindlichkeit propagiert. Antisemitismus ist eine Bedrohung für jüdisches Leben und für die Demokratie."

Sie plädierte dafür, das Gedenken an die Pogromnacht zu erhalten. "Wir brauchen mehr Gespräche mit jungen Menschen."

Die Dresdner Holocaust-Überlebende Renate Aris (88) reiste für den Gedenktag nach Chemnitz.

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Ihre Erinnerungen klingen auch heute noch erschütternd: "Wir wurden damals zum Freiwild erklärt. Am 9. November begann die furchtbare Vernichtung."

Kränze und Kerzen gegen das Vergessen

Die Stadt Chemnitz erinnerte am Donnerstag an die Opfer der Reichspogromnacht vom 9. November 1938.
Die Stadt Chemnitz erinnerte am Donnerstag an die Opfer der Reichspogromnacht vom 9. November 1938.  © Kristin Schmidt

Das Erinnern an die Gräueltaten der Nazis und der aktuelle Krieg in Nahost beschäftigten am heutigen Donnerstag nicht nur Geistliche, Politiker und Holocaust-Überlebende. Den ganzen Tag trafen sich Chemnitzer zum gemeinsamen Gedenken.

Bereits am Vormittag legte OB Sven Schulze (52, SPD) einen Kranz am Stephanplatz, dem ehemaligen Standort der Chemnitzer Synagoge, nieder. Abends ließen die Chemnitzer "Buntmacher" Taten sprechen. Gemeinsam reinigten sie die insgesamt 307 Stolpersteine. Im Rahmen der Aktion "Lichterwege und Lichtpunkte" wurden anschließend Kerzen auf die Gedenksteine gestellt.

"Buntmacher" Daniel Dost (49): "Mehr als 100 Menschen sind heute Abend unterwegs. Zusammen mit der Friedrich August Oberschule haben wir Duplikate von allen Stolpersteinen hergestellt, um damit in Schulen auf die Schicksale aufmerksam zu machen."

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und das Netzwerk für Demokratie und Courage erinnerten an die Opfer des Naziregimes. Anhand einer Lichtinstallation am Haus der Gewerkschaften wurden Geschichten und Bilder von Opfern sowie Widerstandskämpfern gezeigt.

Teilnehmer der Gedenkveranstaltung auf dem Stephanplatz halten Schilder mit Porträts von israelischen Bürgern, die durch Mitglieder der Hamas umgebracht wurden.
Teilnehmer der Gedenkveranstaltung auf dem Stephanplatz halten Schilder mit Porträts von israelischen Bürgern, die durch Mitglieder der Hamas umgebracht wurden.  © Kristin Schmidt
Oberbürgermeister Sven Schulze (52, SPD) legte am Stephanplatz einen Kranz nieder.
Oberbürgermeister Sven Schulze (52, SPD) legte am Stephanplatz einen Kranz nieder.  © Kristin Schmidt
Die "Buntmacher" Daniel Dost (49, l.) und sein Sohn Jakob (20) reinigen Stolpersteine in der Hoffmannstraße.
Die "Buntmacher" Daniel Dost (49, l.) und sein Sohn Jakob (20) reinigen Stolpersteine in der Hoffmannstraße.  © Kristin Schmidt
Am Haus der Gewerkschaften wurden Bilder von Opfern des Naziregimes gezeigt.
Am Haus der Gewerkschaften wurden Bilder von Opfern des Naziregimes gezeigt.  © Maik Börner

Dunkle Zeiten

Kommentar von Lena Plischke

Nein, Ihr und ich seid nicht an der Ermordung der Juden beteiligt gewesen. Doch schon Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt machte 1978 die Verantwortung der späteren Generationen deutlich mit der Aufforderung, "das politische Erbe der Schuldigen zu tragen". Der Satz ist aktueller denn je: Während die Erinnerung an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte immer mehr verblasst, zeigen sich Antisemiten wieder offen auf den Straßen.

Nach dem blutigen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober haben antisemitische Angriffe in Deutschland wieder stark zugenommen. Nach 85 Jahren müssen sich jüdische Menschen wieder hier fürchten.

Wie kann das gerade in unserem Land mit dieser Geschichte passieren? Müssen wir es nicht besser wissen und eigentlich klare Kante zeigen?

Ich finde: Ja! Es ist schrecklich, dass sich Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit im Jahr 2023 vor Angriffen fürchten müssen.

Umso wichtiger sind Gedenkveranstaltungen, Tafeln sowie Stolpersteine, die an jene dunklen Zeiten erinnern. Es muss dringend wieder mehr für die Aufklärung gegen Antisemitismus auch in den Klassenzimmern getan werden.

Wir dürfen nicht nur nicht vergessen, was in unserem Land passiert ist. Wir müssen auch dringend verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.

Titelfoto: Kristin Schmidt, Ines Escherich

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