"Ich will doch nur meine Tochter zurück": 20-Jährige aus Dresden lebt in Aussteigercamp

Dresden - An den besinnlichen Tagen zur Ruhe kommen, das Weihnachtsfest in der Familie genießen: Auch Mutter Eva (56, alle Namen wurden geändert) aus Dresden wünscht sich nichts sehnlicher, als ihre Tochter Lea (20) an Heiligabend in ihre Arme zu schließen. Doch stattdessen plagen die Hochschuldozentin Ängste, Trauer und Wut: Sie ist überzeugt, ihr einziges Kind an das umstrittene Aussteigercamp "El Paraíso Verde" (auf Deutsch: das grüne Paradies) in Paraguay und eine Familie mit schräger Weltanschauung "verloren" zu haben.

Mutter Eva (56) glaubt, dass ihre Tochter geschickt manipuliert wird und nur deshalb nicht nach Dresden zurückkommt.
Mutter Eva (56) glaubt, dass ihre Tochter geschickt manipuliert wird und nur deshalb nicht nach Dresden zurückkommt.  © Eric Münch

Nichts sprach dafür, dass es eine Reise ohne Wiederkehr werden würde. Nur mit Handgepäck flog Lea im Corona-Sommer 2020 zu ihrem etwas älteren Freund John nach Paraguay. Doch zwei Wochen später blieb ihr Sitz im Rückflieger leer. "Mama, ich bleibe hier", sagte Lea am Telefon.

Für Eva ein Schock. "Ich konnte nicht glauben, dass sie Familie, Freunde, Ausbildung und Heimat plötzlich zurücklassen will", sagt die Mutter. Sie steht in Leas Kinderzimmer, das noch so aussieht wie am Abreisetag vor über zwei Jahren. "Sie will zurückkommen. Aber sie wird nicht gelassen", ist Eva überzeugt.

Aber der Reihe nach. 2019 war die Welt noch in Ordnung. Die Mutter reiste mit ihrer Tochter einige Tage nach Paraguay, besuchte das Camp. Sie wollte sich über einen möglichen Alterssitz informieren.

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Lea war noch minderjährig, verliebte sich in John, den Sohn der österreichischen Camp-Gründer Sylvia und Erwin Annau (68). Der ist ehemaliger Scientologe und bekennender Querdenker.

Nach der Abreise traf sich das junge Liebespaar auch in Wien. Anfang 2020 feierte Lea ihren 18. Geburtstag, einige Monate später dann startete ihr Flug ohne Wiederkehr.

Erst nach einem Jahr sehen sich Mutter und Tochter wieder: "Wir haben uns ganz doll gedrückt"

Lea (20) auf einer früheren Aufnahme. Ihr Verhalten jetzt gibt ihrer Familie Rätsel auf.
Lea (20) auf einer früheren Aufnahme. Ihr Verhalten jetzt gibt ihrer Familie Rätsel auf.  © privat

Seitdem nehme ihre Tochter keine Anrufe mehr an, antworte auf WhatsApp-Nachrichten nur sporadisch, berichtet die Mutter. "Ich kenne mein Kind. Da stimmt was nicht. Man kann nicht alles über Verliebtheit erklären", sagt Eva.

"Ich bin mir sicher, dass sie von ihrer Gastfamilie psychisch unter Druck gesetzt wird, alle Zelte abzubrechen und nicht mehr nach Deutschland zurückzukommen." Die Mutter wandte sich an Behörden, doch die winken mit Verweis auf Leas Volljährigkeit ab.

Nach monatelanger Krankheit reiste Eva mit Leas Vater (leben getrennt) ins Camp. "Wir wollten mit ihr zurückfliegen, hatten zur Sicherheit schon Tickets gebucht", sagt Eva. Sie erhielten Zugang und Mutter und Tochter sahen sich nach fast einem Jahr wieder. "Wir haben uns ganz doll gedrückt. Es war wunderschön", sagt die Mutter. "Allerdings konnte ich nicht mit ihr alleine reden, da John immer mit dabei war."

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Schließlich sprachen die Beteiligten. "Lea sagte, dass sie mit nach Deutschland kommen will, um einige Sachen zu erledigen. Die Annaus reagierten darauf sehr wütend. Sie hatten Angst, dass Lea dableibt, ihr Sohn dadurch leidet", berichtet Eva.

Doch nach einer Nacht (in getrennten Häusern) die Kehrtwende. "Plötzlich sagte Lea verschüchtert, sie komme nicht mit. Ich bin mir sicher, dass wieder Druck ausgeübt wurde", sagt Eva. "Auch tauchten bewaffnete Wachen auf, es war schrecklich." Machtlos traten Leas Eltern die Heimreise an.

"Dass sie sich so wehrt, nach Dresden zu kommen, ist merkwürdig"

Das "grüne Paradies" von oben. Hier wollen Impfgegner möglichst ohne Coronaregeln leben.
Das "grüne Paradies" von oben. Hier wollen Impfgegner möglichst ohne Coronaregeln leben.  © Screenshot:Y-Kollektiv/funk

Danach antwortete Lea noch seltener auf Nachrichten. Auch als Eva an Krebs erkrankt, ändert sich daran nichts. "Alles, was Lea schreibt, wird kontrolliert. Die Annaus wirken sektenartig auf sie ein, manipulieren sie, halten sie so fest", glaubt Eva.

"Warum ist es nicht möglich, dass ein Kind seine kranke Mutter besuchen kommt? Wenn Lea mir dann sagt, dass sie in Paraguay sein möchte, könnte ich damit leben."

Sorgen machen sich auch andere, die Lea gut kannten. "Dass sie sich so wehrt, nach Dresden zu kommen, ist merkwürdig", sagt ihre ehemals beste Freundin. Auch zu ihr und anderen habe Lea den Kontakt größtenteils abgebrochen.

Genau wie ihre Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten, von der sie begeistert gewesen sei. Die machte Lea bei ihrer langjährigen Kinderärztin. "Wir waren alle entsetzt. Ihre Leistungen waren gut. Ich glaube nicht, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Mutter und Tochter hatten ein inniges Verhältnis", sagt die Ärztin. "Lea war fröhlich, aber auch naiv und kindlich."

Genau das sei ausgenutzt wurden, um sie zu beeinflussen, glaubt Leas Vater. "Sie hat noch nicht die Reife einer Erwachsenen. Für mich sitzt sie in der Sektenfalle."

Lea: "Ich habe mich aus freien Stücken dazu entschieden, hier in Paraguay zu bleiben"

Einige Querdenker und Coronaleugner verklären Paraguay zum gelobten Land.
Einige Querdenker und Coronaleugner verklären Paraguay zum gelobten Land.  © IMAGO / Olaf Schuelke

Das bestreiten sowohl Lea als auch die Annaus. "Lea ist volljährig und voll geschäftsfähig. Sie kann daher selbst entscheiden, wo sie leben möchte, wohin sie reisen möchte und mit wem sie sich treffen möchte. Dies betrifft auch einen Besuch ihrer Mutter in Deutschland", teilt Erwin Annau gegenüber TAG24 schriftlich mit. Zu keiner Zeit setze man Lea unter Druck.

"Ich habe mich aus freien Stücken dazu entschieden, hier in Paraguay zu bleiben", äußert sich Lea ebenfalls schriftlich. Es habe sehr wohl Gespräche unter vier Augen gegeben, bei denen die Mutter Druck gemacht habe.

„Sie leidet an Wahnvorstellungen, dass ich manipuliert werde“, schreibt Lea. "Alles was ich sage, was ihr nicht gefällt, wird nicht akzeptiert." Die Wachen seien nur zum Schutz gerufen worden.

Warum sie all das ihrer Mutter nicht persönlich in Dresden mitteilt, damit Eva endlich Frieden findet, beantwortet Lea jedoch auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht.

Was ist "El Paraíso Verde"? Ein grünes "Paradies" mit Schattenseiten

Paraguay liegt zwischen Brasilien und Argentinien.
Paraguay liegt zwischen Brasilien und Argentinien.  © livenart/123rf

Keine Angst vor Viren und Krankheiten, keine Impfpflicht, ein freies Leben ohne Angst, ohne Beschränkungen: Mit solchen Versprechungen lockt "El Paraíso Verde" neue Auswanderer ins südamerikanische Paraguay (7,2 Millionen Einwohner, rund 40 Prozent gelten als arm).

Das "grüne Paradies" wurde 2016 in einem Feuchtgebiet nahe Caazapá vom österreichischen Paar Sylvia und Erwin Annau gegründet. "Ich bin ein Querdenker, solange ich denken kann", schreibt er auf seiner Webseite. Verwalter der Siedlung ist die Aktiengesellschaft Reljuv S.A., deren mächtiger Präsident Juan Buker beste politische Kontakte unterhält.

Das Areal (16 Quadratkilometer) ist umzäunt, von Wachen geschützt. Rund 250 Siedler sollen im Camp leben, 700 Angestellte dort arbeiten. Bis zu 20.000 Bewohner sollen es mal werden, eine Stadt, Dörfer mit Seen, Straßen und Freizeitpark entstehen. Zu Krisenzeiten soll die Siedlung dann mit Nahrung, Wasser und Energie zu 100 Prozent autark funktionieren.

Bereits gebaut sollen Supermarkt, Café, Restaurant, Schule, Apartments und ein Gesundheitszentrum sein. "Es bietet Naturheilkundlern und alternativen Heilpraktikern eine neue Heimat", heißt es auf der Webseite.

Y-Kollektiv auf YouTube: Reportage über die Impfgegner-Kolonie in Paraguay

Man muss "nach den von den Gründern verfassten Prinzipien des gegenseitigen Wohlwollens" leben

In Paraguays Hauptstadt Asunción leben etwa eine halbe Million Menschen.
In Paraguays Hauptstadt Asunción leben etwa eine halbe Million Menschen.  © jackf/123RF

Das grüne Paradies wird als "größtes Siedlungsprojekt in Südamerika" beworben. Wer einziehen will, muss viele Tausend Euro für ein Stück Land bezahlen.

Viele Häuser sind noch gar nicht gebaut. Erst nach monatelanger Bewährungszeit erhalten die Käufer einen Besitztitel - solange "die Siedler oder die Reljuv keine berechtigten Einwände haben", schreibt Annau.

Bis dahin (und auch danach) müssen sie "nach den von den Gründern verfassten Prinzipien des gegenseitigen Wohlwollens" leben.

Die Fluktuation ist laut ehemaligen Bewohnern hoch. Man müsse tun, was sie sagen, oder fliege raus, sagte ein Ex-Siedler in einer Reportage auf dem von ARD und ZDF betriebenen YouTube-Kanal "Y-Kollektiv". Das bereits investierte Geld wird nicht immer in voller Höhe zurückgezahlt, legen weitere Berichte nahe. Zudem sollen einige Grundstücke wegen regelmäßigen Überschwemmungen schwer bebaubar sein.

Laut Auswärtigem Amt sind Kriminalitätsrate und Gewaltbereitschaft im Land hoch. Auch der Drogenhandel floriert. Während der Corona-Pandemie entwickelte sich Paraguay zu einem Dorado von Impfgegnern, Querdenkern und rechten Verschwörungsideologen. 2021 ließen sich 3440 Bundesbürger in Paraguay nieder, insgesamt sollen laut Botschaft rund 26.000 Deutsche im Land leben.

Zahlreiche Auswanderer sollen zuletzt dem Land aber auch wieder den Rücken gekehrt haben. Als Gründe wurden dabei in einschlägigen Internetforen Sprachprobleme (Amtssprachen Spanisch, Guaraní), geringe Verdienstmöglichkeiten, extremes Klima und Mentalitätsunterschiede genannt.

Titelfoto: Privat und Eric Münch

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