Dirigent Christian Thielemann hat Zweifel an der Impfpflicht

Dresden - Christian Thielemann (62) und die Staatskapelle beenden das Jahr traditionell mit dem Silvesterkonzert im ZDF. Pandemiebedingt wird das Konzert am Vortag ohne Publikum aufgezeichnet und zu Silvester ausgestrahlt. Wir sprachen mit dem Dirigenten über ein bewegtes Jahr.

Christian Thielemann (62) mit der Staatskapelle im Januar 2020 in der Semperoper, kurz bevor Corona zuschlug.
Christian Thielemann (62) mit der Staatskapelle im Januar 2020 in der Semperoper, kurz bevor Corona zuschlug.  © Matthias Creutziger

TAG24: Herr Thielemann, infolge des Lockdowns in Sachsen sind Sie abermals zum Nichtstun verdammt. Was fangen Sie an mit all der Zeit?

Christian Thielemann: Von Nichtstun lässt sich gerade nicht sprechen. Ich bin zum Beispiel bei meinem eigenen Orchester für den erkrankten Kollegen Welser-Möst und in der Mailänder Scala für Esa-Pekka Salonen eingesprungen.

Darüber hinaus kann ich zu Hause endlich Dinge tun, zu denen ich sonst nicht komme. Vor einiger Zeit habe ich mir eine klassizistische Deckenkrone gekauft, die mit Kerzen beleuchtet wird – die habe ich aufgehängt.

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TAG24: Es war ein ereignisreiches Jahr für Sie: Streit mit Intendant Peter Theiler über die Ausgestaltung von Arbeitsmöglichkeiten in der Semperoper während des Lockdowns zu Beginn des Jahres; die Nichtverlängerung Ihres Vertrags durch die Staatsregierung; am Jahresende wieder ein Lockdown.

Gutes gab es auch, etwa als die Dresdner Musikhochschule Sie zum Professor ernannt hat. Alles in allem war 2021 für Sie aber nicht so erfolgreich, oder?

CT: Das würde ich so nicht sagen. Was Sie Streit nennen, war mein Bemühen darum, dass mein Orchester spielen darf: Warum das bei den Wiener und Berliner Philharmonikern sowie in vielen anderen Städten ging, aber in Dresden nicht, war mir nicht ersichtlich. Und ist es nicht die Aufgabe eines Chefdirigenten, sich für sein Orchester einzusetzen?

Es war nicht von Erfolg gekrönt. Was meinen Vertrag angeht, hatte ich mir doch längst selbst Gedanken darüber gemacht, wie lange ich noch will, bloß bin ich nicht gefragt worden; nach der Entscheidung öffnen sich für meine Arbeit plötzlich ganz neue Perspektiven. Meine Aufgabe an der Musikhochschule erfüllt mich tatsächlich sehr. Und wann immer es möglich war, haben wir, mein Orchester und ich, schöne Musik gemacht, zuletzt beim "Heldenleben", davor beendeten wir den Beethoven-Zyklus.

Darüber hinaus habe ich mit den Wiener Philharmonikern im leeren Musikverein unter optimalen Probenbedingungen fünf Bruckner-Symphonien aufgenommen. So gesehen, war es ein gutes Jahr für mich.

Über die vermeintlich "leichte Muse" im Silvesterkonzert

Thielemann und die Staatskapelle in der Mailänder Scala 2017.
Thielemann und die Staatskapelle in der Mailänder Scala 2017.  © Matthias Creutziger

TAG24: Sie beschließen das Jahr mit dem Silvesterkonzert. Zum zweiten Mal gibt es ein Programm mit inhaltlichem Schwergewicht in der Zeit vor dem Krieg. Was ist so aufregend an dieser Zeit?

CT: Dass in Schlager, Operette und Musical damals so großartige Musik entstanden ist. Silvester 2017 haben wir das Programm mit Ufa-Schlagern gespielt. Nie zuvor und nie danach habe ich nach einem meiner Konzerte so viel Post bekommen, und der Tenor war einhellig: Es war so schön, bitte mehr!

Wir haben es genauso empfunden, deshalb wollten wir unbedingt einen zweiten Aufguss machen.

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TAG24: Gibt es etwas Spezielles, das Schlager, Operette, Musical und auch den Jazz dieser Epoche verbindet?

CT: Ich meine ja. Es ist die große Vielseitigkeit. Wenn man genau hinschaut, fällt auf, dass viele Musiker dieser Gattungen klassisch ausgebildet waren. Nehmen Sie den Bandleader Marek Weber, den ich so sehr verehre: klassisch ausgebildet, ein vorzüglicher Geiger.

Die großen Sänger der damaligen Zeit, wie Richard Tauber, sangen einerseits an der Lindenoper und andererseits Schlager und Operette. Warum? Weil es wahnsinnig gute Musik ist, geschrieben für die großen Musiker. Allein Lehárs "Die lustige Witwe", wie gut das instrumentiert ist!

Karajan hat mal übers Dirigieren gesagt, wer die "Witwe" kann, kann alles. Er hatte recht. Mich begeistert diese Musik. Ich habe so viel Material aus dieser Zeit, dass sich damit noch beliebig viele Programme machen ließen.

Über den Vertrag, der nicht verlängert wird

Konzert-Ankündigung an der Außenhaut der Scala.
Konzert-Ankündigung an der Außenhaut der Scala.  © Matthias Creutziger

TAG24: Ist das Musizieren mit der Staatskapelle aus Ihrer Sicht gänzlich unbeschwert? Die Entscheidung, Ihren 2019 ausgelaufenen ersten Vertrag nicht über 2024 zu verlängern, gründet auch auf einer Erklärung des Orchesters von 2017, demnach eine weitere Verlängerung nicht gewünscht wurde.

CT: Diese Erklärung verstehe ich bis heute nicht. Es ist auch für mich nicht nachzuvollziehen, dass ich heute schon wissen soll, was ich in fünf Jahren denken werde.

Was das Einvernehmen mit dem Orchester anbetrifft, hat sich nichts verändert. Es gab keine Auseinandersetzung, kein Zerwürfnis. Wer das erwartet hat, den muss ich enttäuschen.

TAG24: Hat es so etwas wie ein klärendes Gespräch zwischen Chefdirigent und Orchester gegeben?

CT: Wir haben gut miteinander gesprochen.

Die Zeit in Dresden

Die Scala von außen. Ab 2024 wird Thielemann dort Wagners "Ring" erarbeiten.
Die Scala von außen. Ab 2024 wird Thielemann dort Wagners "Ring" erarbeiten.  © Matthias Creutziger

TAG24: Es gingen eigentlich alle davon aus, dass Sie als Chefdirigent gern über 2024 weitergemacht hätten, zumal Sie nie eine Gelegenheit auslassen, Ihre Arbeit in Dresden zu rühmen?

CT: So ist es ja auch. Ich bin stets mit der allergrößten Freude hier. Dresden ist eine wundervolle Stadt, ich habe das Gefühl von Heimat und Zuhausesein nirgendwo sonst jemals so stark empfunden wie in Dresden.

Die Staatskapelle ist ein wundervolles Orchester, und die schlichte Erklärung, warum es so fabelhaft läuft zwischen uns, ist, dass wir wahnsinnig gut zusammenpassen. Wahrscheinlich werde ich eines Tages im Rückblick feststellen, dass die Jahre in Dresden die schönsten in meinem Chef-Leben waren.

Ob es aus meiner Sicht über 2024 hatte weitergehen können? Ja, vielleicht, aber wie lange? Mit dieser Frage habe ich mich doch auch beschäftigt. Ich werde dann 14 Jahre in Dresden gewesen sein, die Zeit vor Vertragsbeginn, als ich in begonnene Projekte meines Vorgängers Fabio Luisi eingestiegen bin, einbezogen.

Vielleicht hätte ich mich in Dresden noch einmal für drei Jahre gebunden, aber sicher nicht länger. Chefdirigent zu sein bedeutet ja immer auch, für andere nicht verfügbar zu sein. Die ganze Zeit über musste ich Angebote ablehnen – von der Mailänder Scala, den US-Orchestern in Chicago, Los Angeles oder Philadelphia, mit denen ich früher gearbeitet habe, oder vom Concertgebouw Orkest. All das wird mir künftig möglich sein. Ich freue mich darauf.

TAG24: Hat die Entscheidung der Staatsregierung Sie gleichwohl verletzt?

CT: Nein, eine Direktion hat das Recht, neue Schwerpunkte zu setzen. So ist der Lauf des Lebens. Es entsteht daraus kein Schaden. Die Entscheidung hat sich im Nachhinein als Initialzündung entpuppt, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Mein Terminkalender ist inzwischen bis einschließlich 2027 so gut wie ausgebucht.

TAG24: Verraten Sie uns, was da so anliegt?

CT: Ich werde zum Beispiel an der Mailänder Scala ab 2024 eine "Ring"-Produktion erarbeiten.

TAG24: Wie wird es weitergehen im Verhältnis Thielemann/Staatskapelle? Gibt es konkrete Pläne für die Zeit nach 2024?

CT: Wir sind noch im Gespräch über diese Dinge. An mir soll’s nicht liegen. Ich komme nur zu gern wieder.

Über Impfskepsis und die Sorge, dass die Staatskapelle spielfähig bleibt

Thielemann während eines Meisterkurses mit Studierenden der Hochschule für Musik "Carl Maria von Weber".
Thielemann während eines Meisterkurses mit Studierenden der Hochschule für Musik "Carl Maria von Weber".  © Matthias Creutziger

TAG24: Das Silvesterkonzert findet wieder ohne Publikum statt. Haben Sie Verständnis für diesen abermaligen Kultur-Lockdown, obwohl Theater und Konzerthäuser nach allem, was man weiß, kaum Ansteckungsquellen sind?

CT: Es ist so, wie es ist. Ich sehe wieder nur, dass andere Regionen es anders machen. In Berlin etwa wird gespielt. In Sachsen wird es strenger gehandhabt. Das muss ich akzeptieren, aber ich finde es schade.

TAG24: Kaum ein anderes Thema erregt die Öffentlichkeit derzeit mehr als die Frage, ob es eine Impfpflicht geben soll oder nicht. Was ist Ihre Überzeugung?

CT: Ob man die Menschen dazu verpflichten kann, sich impfen zu lassen, darüber bin ich im Zweifel. Wer sich nicht impfen lässt, hat seine Gründe. Ich will darüber nicht urteilen, auch wenn ich selbst einen solchen Grund nicht erkennen kann.

TAG24: Sie haben sich impfen lassen?

CT: Natürlich. Gleich als es möglich war.

TAG24: Haben Sie nie Zweifel gehabt, ob Sie sich impfen lassen sollten?

CT: Überhaupt nicht. Ich wurde vor gut zwei Wochen zum dritten Mal geimpft und würde mich sofort auch ein viertes Mal impfen lassen. Das gibt Sicherheit. Die Impfung ist das geeignetste Mittel gegen die Pandemie.

Mögliche Nachteile für ungeimpfte Musiker*innen

TAG24: Wie in der Gesellschaft insgesamt gibt es auch in der Staatskapelle verhärtete Fronten zwischen Impfbefürwortern und -gegnern. Angeblich 30 Prozent der Musiker*innen sollen umgeimpft sein, wird kolportiert. Beeinträchtigt das die Arbeit?

CT: Wir müssen sehen, was das für die Osterfestspiele in Salzburg im April heißt: In Österreich soll es ab 1. Februar die Impfpflicht geben. Deshalb müssen wir Sorge dafür tragen, dass das Orchester in Salzburg spielfähig ist.

TAG24: Was bedeutet das? Üben Sie auf die ungeimpften Musiker*innen Druck aus, sich impfen zu lassen?

CT: Nein, aber wir zeigen die Konsequenzen auf. Der Orchesterdirektor der Staatskapelle, Adrian Jones, und ich haben schriftlich an die Verantwortung eines Jeden appelliert, der Spielfähigkeit des Orchesters gerecht zu werden.

TAG24: Müssten die leitenden Hierarchien von Semperoper und Staatskapelle - Intendanz, Chefdirigent, Orchesterdirektion - nicht überhaupt auf die Impfung aller Mitarbeiter bestehen? Würde eine größere Anzahl von ihnen erkranken, vielleicht sogar schwer, ginge es in letzter Konsequenz um die Spielfähigkeit des ganzen Hauses.

CT: So weit würde ich nicht gehen. In der Staatskapelle haben wir uns dafür entschieden, eine Empfehlung auszusprechen.

Über den Regierungswechsel in Berlin

TAG24: Zur Bundespolitik: In Berlin hat die Ampel die Regierungsgeschäfte übernommen, neue Kulturstaatsministerin ist die Grünen-Abgeordnete Claudia Roth. Kennen Sie sie?

CT: Ja natürlich, aber leider nicht persönlich.

TAG24: Auf welches Ziel müsste die Kulturpolitik vor dem Hintergrund von Corona Ihrer Meinung nach ausgerichtet sein?

CT: Frau Roth ist ob dieser Aufgabe wohl nicht zu beneiden. Ich habe Zweifel, dass Kulturpolitik allein im Moment viel erreichen kann. Ich plädiere für Gelassenheit: Geben wir der neuen Regierung hundert Tage Frist, bevor wir genau hinschauen.

TAG24: Haben Sie keine konkreten Erwartungen an die künftige Kulturpolitik?

CT: Eine Antwort darauf fällt mir schwer. Das hieße, den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen. Wir in der Kultur sind doch alle lahme Enten zurzeit. Vorne an steht die Pandemiebekämpfung. Ist das getan, müssen wir wieder Öl ins Getriebe bekommen. Es wird uns Anstrengung kosten, die Theater wieder vollzukriegen. Das wird die große Aufgabe für uns alle sein, die Kulturpolitik inbegriffen.

TAG24: Zum Schluss noch einmal zum Silvesterkonzert. Aufgezeichnet wird es am 30. Dezember. Wenn es tags darauf ausgestrahlt wird, haben Sie frei. Was tun sie am Silvesterabend?

CT: Ich kann es noch nicht endgültig sagen. Wahrscheinlich mit einigen Freunden zu Hause sein, einen schönen Wein trinken, gut essen.

TAG24: Unter Ihrem neuen Leuchter? Wo hängt er?

CT: Tatsächlich im Esszimmer. Ich muss noch Kerzen kaufen!

Titelfoto: Montage: Matthias Creutziger (2)

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