Mehr Gegner als Freunde: Nicht-Verlängerung von Thielemanns Vertrag schon lange beschlossen

Dresden - Vor knapp vier Wochen beschloss der Freistaat Sachsen in Person von Kulturministerin Barbara Klepsch (55, CDU) die Trennung von Christian Thielemann (62), Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Der Vertrag Thielemanns über seine Laufzeit bis 2024 hinaus soll nicht verlängert werden.
Christian Thielemann (62) und die Staatskapelle jüngst beim 10. Symphoniekonzert mit Strauss-Werken. Mit dem Programm und weiteren Stücken gastieren Dirigent und Orchester Samstag und Sonntag in Wien.
Christian Thielemann (62) und die Staatskapelle jüngst beim 10. Symphoniekonzert mit Strauss-Werken. Mit dem Programm und weiteren Stücken gastieren Dirigent und Orchester Samstag und Sonntag in Wien.  © Matthias Creutziger

Eine willkürliche politische Entscheidung? Wohl nicht. Auch das Orchester hat, wie Recherchen von TAG24 ergaben, dazu beigetragen.

Am 10. Mai gab das Kulturministerium über den Medienservice Sachsen die Entscheidung bekannt. Die Betroffenen, Dirigent Thielemann und die Staatskapelle, waren kurz davor von der Staatsregierung, Ministerin Klepsch und Ministerpräsident Kretschmer, darüber informiert worden. Im unmittelbaren Vorfeld der Entscheidung zu Rate gezogen worden war das Orchester nicht.

Ein einsamer Entschluss der Regierungsspitze über die Köpfe der Orchestermusiker hinweg, so schien es anfangs. Das Recht dazu hat die Kulturministerin durch ihr Amt, die geübte Praxis ist jedoch eine andere.

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Danach entscheidet das Orchester in interner Abstimmung selbst über seinen Chefdirigenten, Neuverpflichtung oder Vertragsverlängerung, und macht anschließend seinem Träger, dem Freistaat, einen entsprechenden Personalvorschlag. Der in der Regel umgesetzt wird.

Kein einsamer Entschluss der Ministerin

Kunstministerin Barbara Klepsch (55, CDU) während einer Pressekonferenz.
Kunstministerin Barbara Klepsch (55, CDU) während einer Pressekonferenz.  © dpa/Jan Woitas

Übergangen zu werden hat ein Orchester nicht gern, auch dieses nicht. In der Stellungnahme der Kapelle neun Tage nach Verkündung der Entscheidung kam das vorsichtig zum Ausdruck.

Die Entscheidung "traf uns als Orchestermitglieder unerwartet", hieß es dort, bevor man dem Dirigenten für viele künstlerische Höhepunkte dankte und gleich darauf den Regierungsbeschluss, seiner Zielausrichtung zustimmend, unterstützte.

Indes ist das Orchester tatsächlich nicht übergangen worden. Insofern lässt sich über das Wort "unerwartet" in der Stellungnahme staunen. Unerwartet kann die Entscheidung für die Kapelle allenfalls des unvermittelten Zeitpunkts wegen gewesen sein, nicht aber der inhaltlichen Aussage nach.

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Diese Aussage, den Vertrag des Chefdirigenten nicht zu verlängern, war durch das Orchester selbst vorgezeichnet. So lässt sich sagen, dass sich in der Entscheidung der Ministerin der Wille der Kapelle erfüllt. Barbara Klepsch setzt um, was vom Orchester mit der Vorgängerregierung verabredet worden war.

E-Mail an die Staatsregierung

Die Meinungen über Christian Thielemann (62) im Orchester der Dresdner Staatskapelle waren kontrovers.
Die Meinungen über Christian Thielemann (62) im Orchester der Dresdner Staatskapelle waren kontrovers.  © Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa

Thielemann war 2009 von der Kapelle zum Chefdirigenten gewählt worden, drei Jahre später trat er den Vertrag von siebenjähriger Laufzeit an. Als es 2017 um die Fortsetzung des Vertrages (ab 2019) ging, waren die Meinungen in der Kapelle kontrovers.

Der Dirigent ist umstritten im Orchester und war es damals, folglich wurde um die Wiederwahl gerungen. Am Ende erzielte Thielemann in der entscheidenden Orchesterabstimmung eine Zweidrittelmehrheit, doch gab der Orchestervorstand begleitend zur Vertragsverlängerung eine schriftliche Erklärung ab, die im heutigen Zusammenhang von großer Bedeutung ist.

Die Erklärung, die per E-Mail an die Staatsregierung versandt wurde, formulierte - als Preis für die Wiederwahl? - den Entschluss der Kapelle, über 2024 hinaus mit Thielemann als Chefdirigent nicht planen und bis dahin eine Nachfolge finden zu wollen. Diese E-Mail liegt TAG24 nicht vor, ihre Existenz wurde uns aber aus verschiedenen Quellen bestätigt.

Wie die Mehrheitsverhältnisse pro und contra Thielemann in der Staatskapelle gewichtet sind, ist schwierig zu beurteilen. Das Orchester lässt sich ungern in die Karten schauen. Wahrscheinlich ist, dass es unter den Kapellmitgliedern in nicht geringer Anzahl Befürworter seines Engagements gibt, auch solche, die eine Fortsetzung seines Vertrags wünschten.

Eine Zählabstimmung über Thielemann in der aktuellen Situation ist (anders als wir in einem früheren Beitrag fälschlicherweise annahmen) im Orchester nicht erfolgt, wohl aber wurde der vom Orchestervorstand formulierte Text der Stellungnahme abgesegnet - der in entschlossenem Tonfall die Entscheidung der Staatsregierung und damit die schriftliche Erklärung der Kapelle von 2017 bestätigt.

Eine Erklärung solcher Art spiegelt die Verhältnisse im Moment ihres Entstehens. In der Aussage der Erklärung, nach 2024 auf Thielemann als Chefdirigent verzichten zu wollen, urteilte das Orchester im Vorgriff auf eine ungewisse Zukunft. Wer konnte 2017 wissen, wie es vier Jahre später um die Verhältnisse bestellt sein würde?

Ob der Dirigent entgegen dem erklärten Willen der Kapelle eine weitere Vertragsverlängerung hätte erreichen können, wäre es ihm gelungen, das Orchester nachhaltig für sich einzunehmen, muss müßige Spekulation bleiben.

Deutlich geworden ist, dass Christian Thielemann im Orchester mehr Gegner als Freunde hat und dass sein Ende als Chefdirigent seit 2017 feststeht.

Titelfoto: dpa/Jan Woitas/Matthias Creutziger

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