"Alice" im Schauspielhaus: Im Wunderland der bösen Träume

Dresden - "Alice im Wunderland" zählt zu den zeitlosen Kinderbuch-Klassikern, die immer wieder auch auf die Theaterbühne kommen. Mit "Alice" legt das Staatsschauspiel Robert Wilsons abgründige Musical-Fassung neu auf. Eine vorzügliche Inszenierung. Die Premiere war am Samstag im Dresdner Schauspielhaus.

Neben gigantischen Totenkopf-Blumen trifft Alice (Kriemhild Hamann, l.) im Wunderland auf die Raupe (Sarah Schmidt).
Neben gigantischen Totenkopf-Blumen trifft Alice (Kriemhild Hamann, l.) im Wunderland auf die Raupe (Sarah Schmidt).  © PR/Sebastian Hoppe

Der Sturz in den Kaninchenbau, in eine andere Welt - dieses Motiv atmet den Wunsch nach der Flucht vor der Realität. Ist das vielleicht eine Erklärung, warum der "Alice im Wunderland"-Stoff in Pandemiezeiten so beliebt ist? Nachdem im vergangenen Jahr sowohl die Comödie als auch die Landesbühnen recht ernste Inszenierungen vorgelegt hatten, hat nun auch das Staatsschauspiel eine weitere Variation im Programm.

"Alice" nach Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" basiert auf dem Konzept der 1992 uraufgeführten Originalproduktion von Regisseur Robert Wilson und Rock-Poet Tom Waits. Regisseurin Mina Salehpour hat diese Fassung neu eingerichtet.

Mit fantasievollen aber auch furchterregenden Ausstattungs- und Kostümdetails entwirft sie auf meist schwarz gehaltener Bühne eine verzerrte Gegenwelt, ein Wunderland der eher bösen Träume.

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Dort begegnet Alice (mal furchtsam, oft mutig: Kriemhild Hamann, 24) all den berühmt-skurrilen Gestalten - Grinsekatze, Humpty-Dumpty, Hutmacher -, die aber nichts gemein haben mit den harmlos-bunten Illustrationen der Kinderbücher, die der Mathematik-Dozent Charles Dodgson unter dem Pseudonym Lewis Carroll für die kleine Alice Liddell geschrieben hat. Wilsons Theaterbearbeitung verknüpft all diese Nonsens-Motive mit der realen Geschichte, die sich zwischen dem Autor und seiner kindlichen Muse abgespielt hat.

Ob Dodgson/Carroll pädophil war, ob er Alice missbraucht hat - es wurde nie geklärt. Hinweise auf die obsessive Beziehung aber sind Kern dieser Fassung.

Urteil: Alice ist ein unterhaltsam-schräges Musical-Märchen für Erwachsene!

"Alice" empfiehlt sich vor allem für Erwachsene.
"Alice" empfiehlt sich vor allem für Erwachsene.  © PR/Sebastian Hoppe

Hans-Werner Leupelt (58) spielt Dodgson/Carroll als einen Mann, der mit sich ringt: "Mein Kopf tut weh!" Anfangs fotografiert er das Mädchen nur, zusehends aber schimmert der sinistre, bösartige Verführer durch. Eine Glanzleitung.

Im Wunderland will er Alice als Weißer Ritter retten, und stellt ihr doch als Weißes Kaninchen nach - in Form eines grotesken Insekts, das das Mädchen zu verschlingen droht.

Auch sogenanntes Victim-Shaming, also Opferbeschimpfung, ist Thema: Als Alice' Mutter (eine famose Anna-Katharina Muck, 53, als Herzkönigin) Dodgsons Liebesbriefe findet, fordert sie "Kopf ab!". Nicht den des Täters, den des Kindes.

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Erträglich wird dieser beklemmende Subtext durch die zeitlose, schaurig-schöne Bänkel-Musik von Tom Waits, von einer Live-Band vor der Bühne druckvoll gespielt, vom Ensemble in englischer Sprache gesungen.

So wird aus dieser "Alice" dem morbiden Thema zum Trotz ein durchweg stark gespieltes, unterhaltsam-schräges Musical-Märchen für Erwachsene.

Titelfoto: Montage: PR/Sebastian Hoppe (2)

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