"Es war beglückend": Interview mit dem scheidenden Kreuzkantor Roderich Kreile
Dresden - Vor 25 Jahren trat Roderich Kreile (65) aus München kommend in Dresden sein Amt als 28. Kreuzkantor an. An diesem Sonntag endet sein Vertrag, geht Kreile in den Ruhestand. Nachfolger wird der ehemalige Kruzianer Martin Lehmann (48).
TAG24: Herr Kreile, ein Vierteljahrhundert beim Kreuzchor - wie sind Ihre Empfindungen beim Abschied?
Roderich Kreile: Da ist vor allem ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, dass mir diese Aufgabe anvertraut wurde. Ich war wirklich Kreuzkantor mit Haut und Haaren, sieben Tage die Woche, und erinnere mich an unendlich viele schöne Erlebnisse.
Junge Menschen auf ihrem Lebensweg begleiten zu dürfen, war eine beglückende Erfahrung für mich. Dabei ist das Soziale mindestens so wichtig wie das Musikalische.
TAG24: Wie waren Ihre Empfindungen beim Amtsantritt?
Kreile: Es war eine Zäsur für mich. Ich hatte in München ausgeschöpft, was möglich war, und bewarb mich also in Dresden. Die Probenwoche habe ich mit einer Mischung aus Bangen und Vorfreude erlebt. Ich war unsicher, auch weil ich gute Mitbewerber hatte, die zudem aus Dresden stammten.
Da kam mir schon die Idee, dass man mich als eine Art Alibi-Wessi eingeladen haben könnte. Nach einem Gottesdienst übergab mir eine Abordnung der Kruzianer ein Kreuzchorbuch, das war ein indirektes Signal, dass der Chor sich für mich als seinen neuen Kreuzkantor entschieden hatte. Ich war sehr berührt.
TAG24: Die Kruzianer Ihres ersten Jahrgangs sind heute Mittdreißiger bis Mittvierziger. Sind sie Ihnen namentlich noch bekannt?
Kreile: Ich kenne schon noch eine ganze Menge Namen, nur bekomme ich sie mit den Gesichtern nicht immer übereins. Es waren Jungen damals, heute sind sie Männer. Menschen verändern sich.
TAG24: Der Kreuzchor hat sich in der Ära Kreile modernisiert. Stadion statt Kreuzkirche, Auftritte mit Popstars. Es gab auch Kritik daran. Muss ein Knabenchor das tun, um in der heutigen Medienwelt mitzuhalten?
Kreile: Ich habe in dieser Beziehung gar nicht so viel neu gemacht, wie es scheint. Schon unter Kreuzkantor Martin Fläming war der Chor in "Ein Kessel Buntes" mit Beatles-Liedern aufgetreten. Ich sehe die Stadion-Konzerte als Fortsetzung dieser Tradition mit den Mitteln der heutigen Zeit.
Man muss sich immer wieder deutlich machen, dass der Kreuzchor zwar mit der Kreuzkirche verbunden, aber kein Kirchenchor im engeren Sinne, sondern ein städtisches Ensemble ist. Es sind auch Knaben aus atheistischen Familien, die bei uns singen. Die geistliche Musikliteratur und die Werte, für die sie steht, sind der Kern unseres Selbstverständnisses. Aber natürlich blicken wir auch darüber hinaus.
TAG24: Das Konzept Knabenchor ist nicht mehr unumstritten. Nachwuchssorgen und Geschlechtergerechtigkeit sind dafür Stichworte. Wahrscheinlich wird auch der Transgender-Diskurs auf die Knabenchöre übergreifen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Kreile: Der Transgender-Diskurs ist für uns noch nicht relevant geworden, weil es solche Fälle bei uns bisher nicht gab und nicht gibt. Über Nachwuchssorgen können wir nicht klagen. Mit der Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit und der Frage, ob Mädchen in den Chor aufgenommen werden sollten, haben wir natürlich zu tun. Das ist auch im Kreuzchor und in der Stadt diskutiert worden. Mit dem Resultat, dass wir am Konzept Knabenchor festhalten.
TAG24: Was spricht für das Konzept Knabenchor?
Kreile: Es geht letztlich darum, der Vielfalt in der Gesellschaft gerecht zu werden. Deshalb gibt es die unterschiedlichen Angebote von Knabenchören, Mädchenchören und vielen Varianten von gemischten Chören. Sie stehen für jeweils eigene künstlerische Konzeptionen, die spezielle Klangvorstellungen umsetzen. Ich sehe dieses System trotz gelegentlicher Kritik als gesellschaftlich anerkannt an, auch weil alle darin finden können, was sie suchen.
TAG24: Was sind Ihre persönlichen Pläne - üben Sie jetzt allen Ernstes den Ruhestand oder suchen Sie neue berufliche Herausforderung?
Kreile: Der Musiker bleibt immer Musiker. Ich werde mich wieder eingehend dem Orgelspielen zuwenden in nächster Zeit, das ist zu kurz gekommen in den zurückliegenden Jahren. Es gibt durchaus schon Anfragen an mich als Organisten. Ansonsten: Interessante Aufgabenstellungen werde ich gerne prüfen.
TAG24: Planen Sie, dem Kreuzchor verbunden zu bleiben?
Kreile: Ich werde dem Kreuzchor innerlich immer verbunden sein. Physisch werde ich mich auf Abstand bringen. Mein Nachfolger soll frei arbeiten können und nicht das Gefühl haben, dass ihm der Vorgänger über die Schulter schaut. Ich sehe auch keinerlei Notwendigkeit, mich irgendwo einzumischen. Sicher werde ich irgendwann wieder die Vespern besuchen, vielleicht ja mit Sonnenbrille und angeklebtem Bart.
Titelfoto: Jürgen Männel/jmfoto, Eric Münch