Leipzig - "Cry all you want, Friedrich Merz", sagte die Leipzigerin Susanne Siegert (33) in einem ihrer Instagram-Videos und reagiert damit auf Szenen von Bundeskanzler Merz (69), der bei der Eröffnung einer Synagoge in München mit den Tränen kämpfte. Siegert forderte ihn auf, sich aktiv mit der Nazi-Vergangenheit seines Großvaters auseinanderzusetzen.
Merz' Großvater war als Bürgermeister von Brilon (Nordrhein-Westfalen) Mitglied der NSDAP und setzte unter anderem die Nürnberger Gesetze um.
Susanne Siegert arbeitet auf ihren Social-Media Accounts @keine.erinnerungskultur Nazi-Verbrechen auf und erklärt, wie man ihrer Meinung nach heute mit der Vergangenheit umgehen sollte.
Friedrich Merz gehe laut Siegert den falschen Weg. "Es wäre nicht schwer zu reflektieren, ohne die Person [den eigenen Großvater] zu dämonisieren oder sich schuldig zu fühlen", sagte sie im TAG24-Interview.
Für ihre Online-Arbeit wurde die Leipzigerin im September mit dem Margot Friedländer Persönlichkeitspreis geehrt. "Mit unermüdlichem Einsatz kläre sie in den Sozialen Medien junge Menschen über die Verbrechen der Nationalsozialisten auf", begründete die Jury.
Susanne Siegert fordert neue Ansätze
Susanne wohnt und arbeitet in Leipzig. Vor circa fünf Jahren recherchierte sie nach einem Besuch in ihrer Heimat Oberbayern zu dem KZ Außenlager Mühldorf und stieß auf zahlreiche Online-Archive.
Sie fing an, Dokumente und Auszüge auf Social Media zu teilen. Seit 2022 spricht sie dort auch über Erinnerungskultur und Nazi-Verbrechen in ganz Deutschland. Ihre Thesen hat sie auch in einem Buch niedergeschrieben. "Gedenken neu denken" erscheint am 31. Oktober.
Darin formuliert sie neue Wege, um mit Erinnerungskultur umzugehen. "Viele Zeitzeugen sind sehr alt und sie werden immer noch auf Bühnen gezerrt für Zitate", kritisierte die 33-Jährige. Dabei seien sehr ausführliche Interviews mit Überlebenden online in Archiven abrufbar.
Susanne Siegert fordert einen neuen Blickwinkel. "Ich will niemandem Kranzablagen oder Trauerreden verbieten", stellte sie klar. Aber es brauche einen distanzierteren Ansatz.
Menschen müssten sich mehr selbst reflektieren und auch zu einer potenziellen Täterschaft in der eigenen Familie stehen und diese aufarbeiten.
Menschen verlieren die Empathie für jüdische Opfer
Dass Antisemitismus und Verschwörungstheorien gegen Jüdinnen und Juden in der Gesellschaft zunehmen, merkt die Leipzigerin in ihren Kommentarspalten.
Sie erzählte TAG24, dass es sie schockiere, an welche Mythen manche Menschen glauben. Vor allem seit dem 7. Oktober 2023 melden sich auch immer mehr Personen bei ihr, die Siegert kritisieren und meinen, dass die Opfer von damals zu den Tätern von heute werden.
"Es gibt momentan wenig Raum für Empathie für den Holocaust oder jüdische Opfer", erklärte sie. Sie fokussiert sich mit ihrer Arbeit weiter auf die historische Aufklärung der NS-Geschichte.