Olympia lässt ihn nicht los: Wie ein DDR-Geistesblitz den Bob-Sport revolutioniert

Leipzig - Bobbahnen sind imposant, ihre kurvenreichen Rodelstrecken spektakulär. Doch wer plant und baut die Eisröhren eigentlich? Ein Leipziger Ingenieurbüro hat praktisch alle künstlichen Bobbahnen der Welt entworfen, die heutzutage im Wettkampfkalender internationaler Verbände berodelt werden.

Seine Firma haben inzwischen zwei Leipziger Diplomingenieure von ihm übernommen - er blieb Berater: Udo Gurgel (87) ist der "Dr. Bob" aus Sachsen.  © Ralf Seegers

Das wäre ohne die geniale Erfindung des Firmengründers unmöglich. Das Urgestein des Bobbahnbaus ist heute 87 Jahre alt und mischt jetzt beim Bau der neuen Olympiabobbahn in Italien noch einmal kräftig mit.

Ohne ihn gäbe es nur eine Welt ohne Bobbahnen: Udo Gurgel (87) gilt als Altmeister des modernen Bobbahnbaus und als unser "Dr. Bob" aus Sachsen.

Nach seinem Studium des Konstruktiven Ingenieurbaus in Cottbus und Weimar schuf er in seiner ersten Schaffensphase vergleichsweise geradlinige Betonprojekte - den 10-Meter-Sprungturm in der Leipziger DHfK-Schwimmhalle, die Eisschnelllaufbahnen in Chemnitz und Weißwasser sowie DDR-Sporthallen und Brücken.

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Den Quantensprung zum Genie der gewundenen Betonkurven hat er seiner Lohnabrechnung zu verdanken. Weil er monatlich 100 DDR-Mark mehr verdienen konnte, heuerte er beim Wissenschaftlich-Technischen Zentrum für Sportbauten an und rutschte so förmlich in den Bobbahnbau hinein.

"1968 kam der Auftrag, eine Rennschlittenbahn im thüringischen Oberhof zu errichten", erzählt Gurgel.

"Die Kurven des Kanals waren bis zu vier Meter hoch. So viel Holz zum Verschalen der dafür nötigen Betonstrukturen stand in der gesamten DDR nicht zur Verfügung."

Gurgel hatte eine Idee: Er ersann ein Verfahren zur schalungsfreien Herstellung gebogener Betonwände - ohne Holz, aber mit einem Trick.

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In den Metallrohren zirkuliert die Kühlflüssigkeit: Bau der Bobbahn im sächsischen Altenberg 1984.  © Ingenieurbüro Gurgel und Partner

Die erste Kunsteisbahn stand in Rekordzeit

"Wir konnten nur bei McDonald's essen": Für die Errichtung der Bobbahn in Calgary wurde Udo Gurgel 1988 sechsmal als Projektbetreuer aus der DDR eingeflogen.  © imago/Werner Schulze

Die Bahnwände entstehen auf einem Metallgitter mithilfe eines speziellen Beton-Spritzverfahrens à la Gurgel.

Der Erfinder erinnert sich: "Die Kurvengeometrie der Bahn berechnete an der TU Dresden ein Großrechner."

Der wurde seinem Namen mehr als gerecht, war er doch so groß wie ein gesamter Büroraum und noch dazu lahm. "Er brauchte eine ganze Nacht, um eine einzige Kurve zu berechnen", weiß Gurgel.

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Trotzdem und auch dank seiner neuen Spritztechnik wurde in Rekordzeit von nur einem Jahr die erste Kunsteisbahn der DDR und weltweit zweite überhaupt fertiggestellt.

Das Oberhofer Prestigeprojekt begeisterte auch die Sowjets, die sich 1986 eine Bob- und Rodelbahn in Sigulda (heute Lettland) bauen ließen. Und es rief die Kanadier für Olympia 1988 in Calgary auf den Plan. Die ganze Welt war plötzlich scharf auf Gurgels bestes Ingenieurstück mit den scharfen Kurven.

Weil 1988 ein Kollege als Reisekader für Kanada ausfiel ("er war untragbar geworden, weil sein Sohn war über Ungarn in den Westen abgehauen war"), durfte Gurgel einspringen.

Am Ende flog er insgesamt sechsmal zur Projektbetreuung der Olympia-Bobbahn nach Calgary.

Den von dort als Souvenir mitgebrachten Ahornsirup durfte er behalten, zehn Fotokalender wurden dagegen bei der Rückkehr in die DDR konfisziert.

"Ich hatte in Calgary nur 10 Dollar Spesen pro Tag zur Verfügung, sodass ich immer preiswert bei McDonald's essen gehen musste - fürchterlich."

Damals schwor sich Gurgel: "Wenn du irgendwann mal in den Westen kommen solltest, gehst du nie mehr Fast Food essen." Diesen Schwur hat er bis heute eingehalten.

Die Bob- und Rodelbahn im Kanzlersgrund in Oberhof/Thüringen ist die erste vollständig am Computer berechnete Bahn der Welt.  © picture-alliance / dpa

Patentversuch scheiterte an Geld: "Sonst würde ich heute mit einem großen Mercedes durch die Lande fahren"

27. Februar 1988 auf der Bob- und Rennrodelbahn im Canada Olympic Park in Calgar.  © imago sportfotodienst

Bis heute wird auch ein spezielles Projektprozedere immer wieder durchexerziert, weil manche es partout besser wissen wollen als unser Dr. Bob.

So werden die Eisröhren zwar in Leipzig projektiert, müssen aber von heimischen Baukonzernen an Ort und Stelle errichtet werden. "Wir lassen sie immer erst ein etwa zwölf Meter langes Eisbahn-Testmodell in Originalgröße bauen, was fast immer schiefgeht", verrät Gurgel.

"Erst wenn die Rezeptur des Betons und der Strahldruck exakt mit meinen Vorgaben übereinstimmen, wird's was."Perfekte Patentrezepte altern nie. So wird Gurgels schalungsfreies Beton-Spritzverfahren bis heute im Bobbahnbau weltweit angewendet. Doch es wurde niemals patentiert.

"Ein weltweites Patent scheiterte, weil der DDR dafür 2000 US-Dollar an Devisen fehlten. Die Beschaffung dieser vergleichsweise geringen Summe war aussichtslos", ärgert sich Gurgel noch heute.

"Sonst würde ich heute mit einem großen Mercedes durch die Lande fahren."

Nur einmal in seinem Leben raste Gurgel übrigens selber in einem Bob eine seiner Bahnen hinab. "Nie wieder! Ich saß in Lillehammer in einem Testbob und konnte wegen der immensen Fliehkräfte den Kopf kaum bewegen."

Immerhin wirken auf Bobfahrer 5G-Kräfte wie auf Astronauten! Dann ist der Schädel mit 35 Kilo plötzlich fünfmal so schwer. Nicht umsonst trainieren Bobfahrer mit Gewichten am Kopf - ein wahrer Leistungssport für die Athleten, aber auch für die Bahn-Projektanten!

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