DDR-Geflüchtete über die totgeschwiegene Vergangenheit: "Wie soll so etwas aufgearbeitet werden?"

Hamburg/Lanzarote – Sybille Weser Gleich (58) ist als 19-Jährige von der Stasi verhaftet worden. Ein einschneidendes Ereignis im Leben der gebürtigen Leipzigerin. Heute wohnt sie auf Lanzarote, leitet ein kleines Hotel direkt am Strand. Deutschland hat sie vor einigen Jahren hinter sich gelassen, auch weil ihr schon in sehr jungen Jahren ihr Zuhause genommen worden ist. TAG24 hat die Wahl-Spanierin kurz vor ihrem Abflug in ihre neue Heimat am Hamburger Flughafen zum Interview getroffen.

Sybille Weser Gleich (heute 58) mit 21 Jahren kurz vor ihrer Ausreise nach West-Berlin.
Sybille Weser Gleich (heute 58) mit 21 Jahren kurz vor ihrer Ausreise nach West-Berlin.  © Christiane Eisler

1983 saß Sybille Weser Gleich ein halbes Jahr in Stasi-U-Haft, danach musste sie noch fast drei Jahre in der DDR bleiben. Am 6. März 1986 wurde sie schließlich ausgebürgert.

Mit gerade einmal 21 Jahren musste sie sich in West-Berlin ohne jegliche Hilfe ein neues Leben aufbauen. Der Traum vom Leben im Westen entpuppte sich als täglicher Alltagskampf, den die heute 58-Jährige als "sehr anstrengend" in Erinnerung hat.

Ohne Familie und Freunde suchte sie den Kontakt zu Gleichgesinnten und machte in West-Berlin eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin und betreute Übersiedler aus der DDR. Später leitete sie sogar ein Heim für Asylantragsteller.

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TAG24: Wie würden Sie Ihre Zeit nach der Ausbürgerung beschreiben?

Weser Gleich: Ich habe gemerkt, wie einsam ich war. Mit 21 Jahren kann man das nachts noch wegtanzen, aber man ist trotzdem zerrissen. Ich habe gut drei, vier Jahre gebraucht, um das Gefühl zu haben, angekommen zu sein.

Wir haben uns das alle unendlich gewünscht und als man dann im Westen war, war es ein bisschen so, als hätte einem jemand die Beine weggerissen. Die anderen jungen Leute sind am Wochenende nach Hause gefahren und ich durfte nicht einmal einreisen, als meine Oma im Sterben lag. Was ich zurückbekommen habe, war ein Grab nach dem Mauerfall.

TAG24: Waren Sie froh, als die Grenzen geöffnet worden sind?

Weser Gleich: Als die Mauer fiel war ich eine derjenigen, die sich dafür überhaupt nicht begeistern konnten. Ich dachte "Um Gottes willen, jetzt kommen die ganzen Verräter hierher". All diejenigen, die jetzt sagen, die DDR war so toll. Die geschwiegen haben, als ihre Jugendlichen ins Gefängnis gesteckt wurden. Die Nachbarn, die nie etwas gesagt haben.

"Die Realität sah dann etwas anders aus, und dann begann die große Verdrängung von vorn!"

Sybille Weser Gleich mit ihrem Mann im Stasi-Museum in Leipzig.
Sybille Weser Gleich mit ihrem Mann im Stasi-Museum in Leipzig.  © privat

TAG24: Warum denken Sie, war die Stasi in der DDR so erfolgreich? Warum gab es auch so viele inoffizielle Mitarbeiter?

Weser Gleich: Ich persönlich glaube, weil am Anfang der Staatsgründung die Erwartungen unermesslich groß waren. Der Faschismus lag unaufgearbeitet hinter den Menschen und der größte Teil der Bevölkerung hat fest daran geglaubt, es besser zu machen. Besser als der böse Westen.

Die Realität sah dann etwas anders aus, und dann begann die große Verdrängung von vorn. Wieder wurden die Zeichen nicht wahrgenommen, wieder hat man weggeschaut, wieder ist man mit der Meute gelaufen.

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Und dann war die Stasi extrem erfolgreich, weil die Menschen die alten Ängste noch nicht verarbeitet hatten. Dort brauchte man ja bloß ansetzen und schon waren die meisten Menschen eingeschüchtert. Angst war ein großes Thema.

TAG24: Auch heute wird Deutschland noch in Ost- und West eingeteilt, auch ohne Mauer. Wie empfinden Sie das?

Weser Gleich: Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum die Leute das so kultivieren. Es ist natürlich verführerisch, ich merke das bei mir selber: Wenn jemand sagt, er kommt aus Leipzig oder Dresden, fange ich sofort an, das Schöne in der gemeinsamen Vergangenheit zu suchen.

Dieses Pragmatische zum Beispiel. Die DDR-Bürger waren unheimlich praktisch veranlagt, sie wussten sich immer zu helfen. Ich kann mich daran erinnern, dass bei unserem Kofferradio die Antenne abgebrochen ist, dann haben wir den Mixer reingesteckt und kriegten plötzlich RIAS Berlin.

Das wurde viel zu wenig kultiviert und alles andere wie die "Unterschiede" zwischen Ost und West viel zu sehr.

"Ich glaube, das DDR-Flüchtlinge alle ein Stück ihrer Heimat verloren haben!"

Sybille Weser Gleich wohnt heute auf der spanischen Insel Lanzarote:
Sybille Weser Gleich wohnt heute auf der spanischen Insel Lanzarote:  © privat

TAG24: Finden Sie denn, der Westen hat den Osten zu wenig nach der Wende unterstützt?

Weser Gleich: Natürlich gab es Piraten, die im Osten geplündert haben, aber der Westen hat auch viel wieder aufgebaut und erhalten. Die Leute in der DDR konnten weniger materielle Werte anschaffen, internationales Reisen war unmöglich, all diese Dinge verknüpft mit dem "bösen Kapitalismus" waren tabu.

Natürlich fühlten sich die Menschen seltsam, wenn die Leute im anderen Teil des Landes viel vermögender und erfolgreicher waren. Dieser synthetische Makel wurde aber nicht von allen mit Selbstbewusstsein und Ehrgeiz angegangen, sondern viele haben sich sehr schnell wieder in die Opferrolle begeben.

Und aus dieser heraus als Trotzreaktion die AfD zu wählen, kann meiner Meinung nach mit nichts auf der Welt gerechtfertigt werden. Ich bin über die hohen Zahlen wirklich entsetzt.

TAG24: Warum werden Sie nicht müde, Ihre Geschichte zu erzählen?

Weser Gleich: Jeder DDR-Bürger oder jeder Mensch, der in der DDR gelebt hat, hat erlebt, wie Leute verhaftet, denunziert oder verraten worden sind. Vielleicht auch Erfahrungen mit eigenen Verfehlungen gesammelt. Das alles wird nicht und wurde auch nie besprochen. Es wird totgeschwiegen. Wie soll so etwas aufgearbeitet werden?

TAG24: Sie sind selbst bespitzelt worden, was würden Sie heute einer Stasi-Spionin wie beispielsweise Monika Haeger sagen?

Weser Gleich: Ich würde ihr sagen, dass sie das Schönste im Leben nicht verstanden und gefunden hat. Die größten Freuden durch Empathie, Liebe und Freundschaft hat sie nie erlebt. Ich finde, das ist ein ziemlich leeres Leben und ich bin zwischen Mitleid und Abscheu hin- und hergerissen.

TAG24: Heute leben Sie auf Lanzarote. Wollten Sie Deutschland aufgrund Ihrer Vergangenheit aktiv den Rücken kehren?

Weser Gleich: In den Süden wollte ich schon immer. Es hat also weniger mit den alten Erfahrungen zu tun. Es ist keine weitere Flucht, sondern eine bewusste Entscheidung für das Meer, die Sonne und den südlichen Lebensstil gewesen. Ich glaube aber, das DDR-Flüchtlinge alle ein Stück ihrer Heimat verloren und unfreiwillig aufgegeben haben, auch bei mir gibt es diese Lücke.

Den ersten Part des Interviews über Sybille Weser Gleichs Verhaftung 1983 lest ihr im TAG24-Artikel "Wegen 'Staatsfeindlicher Hetze' in Haft: Stasi-Opfer erzählt vom Schrecken der DDR".

Titelfoto: Christiane Eisler

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